Das Sterben ist ein Teil des Lebens und doch berührt es jeden auf besondere Weise. In stillen Räumen der Pflegeheime, auf Friedhöfen, bei Abschieden in der Familie oder in Hospizen wird der letzte Weg begleitet – geprägt von Ritualen, Entscheidungen und Momenten voller Nähe und Verlust. Wie Menschen sterben, trauern und erinnern erzählt viel über das Leben selbst. Für die Reportagereihe „Wie sterben Menschen heute?“ besuchten die LokalDirekt-Volontäre Amaris Seegmüller und Paul Hösterey sowie Praktikantin Carlotta Warmuth Einrichtungen, die täglich mit dem Lebensende konfrontiert sind. Teil 1 der Serie umfasst einen Besuch im Seniorenpark Reeswinkel.
„Sterben ist ein wichtiges Thema, das gerne wortwörtlich „totgeschwiegen“ wird. Jeder hat Angst davor und kaum jemand spricht wirklich darüber“, betont Kirsten Hillebrand, Leitung des sozialen Dienstes des Seniorenparks Reeswinkel. Heimleiter Steffen Mischnick ergänzt: „Niemand der Bewohner geht freiwillig ins Pflegeheim. Zwar zwingt niemand die Bewohner direkt, aber die Gesamtsituation führt sie letztendlich hierher.“
Pflegeheim ist nicht Hospiz – aber Sterbebegleitung gehört dazu
Der Seniorenpark Reeswinkel ist kein Hospiz. „Hospize haben eine andere Personalstruktur“, erklärt Heimleiter Steffen Mischnick. „Hospize haben andere Mittel, andere Möglichkeiten und vor allem eben einen deutlich höheren Personalschlüssel. Es wird im Grunde erwartet, dass das als Standardaufgabe einer Pflegeeinrichtung mit dazugehört.“
76 Bewohner, 16 Pflegefachkräfte – das ist die Realität im Pflegeheim. „Das Eingehen auf den Menschen ist in einem Hospiz sicherlich anders möglich“, sagt Mischnick. „Die Hospize sind zudem auch für jüngere Menschen mit einer finalen Erkrankung zugänglicher als eine Pflegeeinrichtung. Wir sind zwar Pflegeheim, aber letztlich sind wir trotzdem ein Altenheim. Unser Konzept ist ein Konzept, das sich auf Sterbende im Alter richtet.“
Dabei leben im Seniorenpark Menschen mit verschiedenen Erkrankungen. „Bei uns gibt es die komplette Bandbreite. Wir haben alles, außer eben Menschen mit starken Atemwegserkrankungen. Krebs ist sicherlich ein hoher Anteil. Aber auch psychiatrische Erkrankungen. Menschen, die einfach alt sind und dann eben letztlich auch keine Kraft mehr haben“, meint Mischnick. „Wenn jemand kommt, der palliativ ist, dann wird er aber genauso betreut und begleitet wie in einem Hospiz“, ergänzt Peter Osterkamp, Hausseelsorger.
Leben im Heim – und Bindungen, die bleiben
Die Pflegefachkräfte begleiten Menschen oft über viele Jahre. „Wir sind eine Langzeitpflegeeinrichtung, das heißt wir haben Menschen hier, die leben über Jahre gemeinsam mit uns. Das sind nicht irgendwelche Patienten, die kommen und gehen. Sicher, wir haben auch mal Menschen, die nicht ganz so lange bleiben oder die schon in einem palliativen Zustand zu uns kommen, aber das ist meist nicht die Regel. Das heißt, da entstehen dann auch emotionale Bindungen“, sagt Mischnick.
Er erinnert sich besonders an eine Bewohnerin, die fast zwei Jahrzehnte im Seniorenpark lebte. „In diesem Jahr ist eine Bewohnerin bei uns verstorben. Sie war seit 2006 bei uns. Sie hat wirklich, auch wenn sie sehr alt war, einen ganz großen Anteil ihres Lebens bei uns und mit uns verbracht. Und da muss man sich manchmal anders verhalten, als wenn man im Krankenhaus Krankenschwester oder Krankenpfleger ist“, betont er.
Auch Kirsten Hillebrand, Leitung des Sozialen Dienstes, weiß: „Man hat nicht zu jedem Bewohner den gleichen Bezug. Aber bei manchen ist es tatsächlich so, dass man ein Stück mitnimmt. Man lernt, mit den Jahren anders damit umzugehen. Aber es wird keine Routine. Und jeder Mensch stirbt auch seinen eigenen Tod.“
„Man denkt vielleicht, dass es genauso wie beim letzten Mal abläuft. Das tut es aber nicht. Es ist alles anders“, ergänzt Peter Osterkamp, Hausseelsorger. „Und selbst wenn es alles in einem Standardrahmen bleibt, ist es trotzdem unheimlich wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Auch wenn es für uns vielleicht als Einrichtung oder auch als Mitarbeiter eine gewisse Routine hat, muss man auch schauen, wie man zusammen mit den Angehörigen mit dem Tod umgeht“, ergänzt Mischnick.
Tod als täglicher Begleiter – und doch nie Alltag
Regelmäßig junge Auszubildende an das Thema heranzuführen ist nicht leicht. „Freiwillige in der Sterbebegleitung zu finden ist sehr schwierig“, sagt Mischnick. Er wünscht sich, künftig noch gezielter in der Ausbildung der Nachwuchskräfte über das Thema Sterbebegleitung zu sprechen: „Es ist nunmal ein sehr sensibles Thema. Man muss sich dafür schulen und muss auch vorbereitet werden. Man muss selbst eine gewisse Stabilität haben, um mit solchen Situationen umzugehen“, so Mischnick. „Ich möchte gerne in Zukunft vor dem Examen mit den Auszubildenden eine Art Lernfreizeit machen. Und da will ich das Thema auch nochmal spezifisch aufnehmen. Wenn man in diesem Bereich arbeitet, kommt man da eben nicht drum herum.“
Dabei weiß er auch: „Eigentlich dürfte es uns vom Grundsatz her auch gar nicht überraschen, wenn jemand morgen vielleicht nicht mehr aufwacht. Das sag ich jetzt mal ganz krass. Aber natürlich tut es das trotzdem, weil Pflegebedürftigkeit so ein weites Spektrum ist. Wir haben ganz fitte Bewohner, wo wir dann wirklich alle morgen hier sitzen und uns fragen würden, 'Wie ist denn das jetzt passiert?'. Und wir haben Bewohner, bei denen wir sagen, 'Gut, dass du es geschafft hast', weil wir auch wissen, derjenige liegt vielleicht schon seit zwei, drei Jahren im Bett, ohne Aussicht auf Besserung.“
Zwischen Nähe, Abschied und Verantwortung: Angehörige begleiten
Ein großer Teil der Sterbebegleitung betrifft auch die Angehörigen. „Das ist jedoch ganz individuell“, erklärt Mischnick. „Es gibt Angehörige, die möchten mit einbezogen werden und sind vielleicht auch im Vorfeld schon täglich oder mehrmals die Woche bei uns. Und es gibt welche, die können damit nicht umgehen, möchten dann auch nicht mit dabei sein. Wenn wir in diesem Prozess merken, dass es in eine präfinale Phase, in einen Sterbeprozess, hineingeht, dann wird auch im Vorfeld besprochen, ob sie nachts angerufen werden wollen. Die meisten sagen ja. Es gibt aber auch welche, die sagen nein. Weil sie es einfach nicht wollen, oder weil sie denken, dass sie die Situation eh nicht ändern können“, sagt er.
„Oft ist es auch so, dass die Angehörigen gar nicht mehr das Zimmer verlassen wollen. Dann kann es aber auch sein, dass der Bewohner von dem Besuch schon genug hat und unruhig wird. Und wenn dann mal die Hand genommen wird, wird sie weggezogen. Dann ist es auch unsere Aufgabe, den Angehörigen rauszuholen. Wir gehen dann einen Kaffee trinken oder wir schnappen mal ein bisschen Luft. Da muss man wirklich so ein Feingefühl für entwickeln, um so etwas frühzeitig zu erkennen“, ergänzt Hillebrand.
Viele der Angehörigen sind aber unglaublich dankbar für die Arbeit der Pflegefachkräfte. „Dann sagen die Angehörigen beispielsweise 'Ich war hier wie zu Hause. Ich habe mit euch und meiner Mutter hier gelebt'. Es gibt auch Fälle, wo die Angehörigen mit auf dem Zimmer des Bewohners verbleiben, wo wir dann einen Sessel reinstellen oder ähnliches. Da versucht man eben individuell drauf einzugehen“, betont Osterkamp.
Letzte Wünsche – kleine Gesten, große Wirkung
Es sind die kleinen Geschichten, die bleiben. Hillebrand erzählt von einer Bewohnerin, die sich eine Pizza Hawaii wünschte: „Ich kann mich noch an eine Geschichte erinnern, die muss ich immer mit einem Lächeln erzählen: Es war eine Bewohnerin, bei der ich tagtäglich war, die sich eine Pizza Hawaii wünschte. Ich rannte in die Küche und bat den Koch um eine Pizza. 20 Minuten später war diese fertig und es roch im ganzen Zimmer danach. Sie hat mich dann gefragt, wie ich das gemacht hätte. „Gezaubert“ meinte ich. Und dann habe ich mit ihr tatsächlich diese Pizza Hawaii gegessen. Ich werde dieses Leuchten, dieses Glücksgefühl in ihrem Gesicht, nie vergessen. Am nächsten Tag ist sie dann gestorben. Mit einem Lächeln im Gesicht. Es sind manchmal so winzige Kleinigkeiten, aber wenn man die erfüllen kann, ist man glücklich.“
Auch Osterkamp erinnert sich: „Eine Bewohnerin wollte frische Kirschen. Da war das noch nicht so, dass die Geschäfte jederzeit auf waren. Da bin ich zum Markt geflitzt und habe die frischen Kirschen vom Obsthändler geholt. Die konnte die Frau gar nicht essen, also haben wir sie durch ein Sieb gedrückt. Sie hat den Kirschsaft geschmeckt und dann ist sie gestorben.“
Mischnick fasst zusammen: „Und darum geht es in der Sterbebegleitung, aber eben auch speziell bei uns: Dass man versucht, das Sterben ,rund‘ zu machen, dass man am Ende paradoxerweise auch sagen kann, das war ein gutes Sterben.“
Die präfinale Phase – Zeichen, die man erkennen kann
Irina Simf arbeitet als Pflegefachkraft im Seniorenpark und macht gerade eine palliative Fortbildung. Sie kennt die Anzeichen der letzten Phase gut. „Man kann schon sehen, ob es noch länger dauert oder ob jetzt die finale Phase kommt. An der Atmung und an bestimmten Verfärbungen“, sagt sie.
Mischnick ergänzt: „Von Präfinal sprechen wir in der allerletzten Phase, wenn jemand wirklich mit diesen nachweisbaren Zeichen - Durchblutungsstörungen, Marmorierung, Atmung - in die Sterbephase eintritt. Wo man wirklich sagt, vielleicht noch heute, vielleicht noch morgen Vormittag, aber auf keinen Fall mehr bis nächste Woche.“ Dabei könne das Blut in der präfinalen Phase nicht mehr richtig zirkulieren. Dieser Prozess beginnt zunächst bei den Fingern und Füßen des betroffenen Menschen.
Palliativpflege – zwischen Angst, Medizin und Würde
„Viele der Angehörigen denken beim Wort Palliativpflege sofort, dass der Betroffene bald stirbt. Dann muss ich häufig erstmal aufklären und ihnen sagen, dass das oft nicht so ist. Wir haben Bewohner, die sind über Jahre hinweg palliativ“, betont Simf. Für manche Bewohner bleibe das Sterben dennoch spürbar. „Wir können sie häufig nicht fragen“, erklärt Mischnick. „Es gibt aber Menschen, die merken es und äußern das auch.“
Angst bleibt dabei trotzdem ein großes Thema. „Wir wissen nunmal nicht, was danach kommt. Auch darum geht es bei der Sterbebegleitung: Die Angst durch Nähe und Dasein zu nehmen. Manchmal eben aktiver, durch wirkliche Begleitung am Bett. Manchmal passiver“, betont Mischnick. „Die Palliativmedizin versucht das Leiden durch die Schmerzmedikation in den Hintergrund zu stellen. Sie kann es nicht nehmen, aber kann es so dämpfen, dass der Bewohner es vielleicht nicht mehr wahrnimmt.“
Sterben heute – anders als früher
Osterkamp sieht klare Veränderungen: „Die Menschen sterben älter. Wir sind ja dankbar, dass die Menschen nicht nur im Krankenhaus sterben müssen, sondern auch hier in der Familie, wenn es zuhause nicht geht“. Auch Simf ergänzt: „Ich denke aber auch, dass die Menschen durch die Medizin anders sterben. Heute muss keiner mehr mit Schmerzen sterben.“
Dabei hat sich laut Mischnick auch die Palliativpflege verändert: „Wir haben eine viel bessere Palliativmedizin als noch vor 20 Jahren. Heutzutage hat fast jeder eine Patientenverfügung. Dort steht klar drin, ob derjenige lebensverlängernde Maßnahmen möchte oder nicht. Es ist ein Thema, dass mehr und mehr in die Öffentlichkeit rückt. Auch durch Medien, durch Fernsehen und zum Teil durch Filme.“
Wenn Lebensmüdigkeit auftaucht
„Die Lebensmüdigkeit ist im Alter sehr verbreitet, die Suizidalität nicht. Und wenn jemand suizidale Gedanken äußert, muss man das auch einordnen“, erklärt Mischnick. „Dann sind wir tatsächlich auch verpflichtet, in Abwägung mit dem Arzt über eine psychologische Einweisung mit Psychiatriekonsulten nachzudenken. Meistens nehmen die Bewohner solche Wunschäußerungen aber wieder zurück.“
Auch Osterkamp berichtet von fragenden, verzweifelten Angehörigen: „Ein Mann bat mich: „Können Sie meine Frau umbringen? Ich spende auch 3000 Euro.“ Da habe ich gesagt „Glauben Sie, ich werde jemanden umbringen? Ich werde hier nicht zum Mörder“.
Am Ende zeigt sich im Seniorenpark Reeswinkel vor allem eines: Sterben bleibt immer ein individuelles Geschehen, das sich keiner Routine fügt. Die Pflegefachkräfte versuchen trotz aller Belastungen jedem Menschen einen persönlichen, möglichst „runden“ Abschied zu ermöglichen. Sie wissen, dass Angehörige dabei ebenso Begleitung brauchen wie die Sterbenden selbst, und dass Nähe, Zeit und Offenheit oft wichtiger sind als jedes medizinische Detail.























