Sandra Schnell ist einer dieser Menschen. Die Pfarrbeauftragte der Pfarrei St. Matthäus stand in diesem Jahr vor vielen großen Herausforderungen. Präsent ist vielen gewiss noch die Aufgabe der Kirche St. Josef und der angrenzenden Gebäude. Aber auch ein Missbrauchsvorwurf, erschütterte erneut die Gemeinde. Zudem wurde viel Neues ausprobiert, wie zum Beispiel eine Tiersegnung, ein Erntesegen und die Ape hat ihren Dienst aufgenommen. LokalDirekt traf Sandra Schnell zum Gespräch:
Die Mitglieder von St. Josef und der gesamten Pfarrei hatten es in diesem Jahr nicht so leicht. Der Verkauf der Kirche, des Vereins- und Pfarrhauses, der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs, ein Kita-Ausbau, der extrem im Zeitplan hängt,… Jetzt kann es nur noch aufwärts gehen, oder? Glauben Sie, dass das Tal durchschritten ist?
„Es stimmt: Es liegt ein ereignisreiches Jahr hinter uns. Vieles davon war belastend und schwer, anderes auch lebendig und verheißungsvoll. Die Pfarrei St. Matthäus hat in diesem Jahr einen Jahresschwerpunkt auf den Standort Nachrodt-Wiblingwerde gelegt. Das hing natürlich mit der bevorstehenden Schließung der Kirche und der anliegenden Gebäude zusammen, hat aber für Nachrodt und Wiblingwerde eine große Aufmerksamkeit und viele schöne Erlebnisse ermöglicht: angefangen mit der Fronleichnamsprozession, dem Tiersegen to go, dem Kräutersegen und dem Erntesegen to go, dem Pfarrfest im September, dem St.-Martins-Umzug, dem Lenniac-Konzert und dem festlichen Abschluss-Gottesdienst in der Josefskirche bis hin zur feierlichen Eucharistiefeier am ersten Advent in der neu renovierten Michaelskapelle. So viele große und festliche Momente haben gezeigt, dass uns die Gemeindemitglieder in Nachrodt und Wiblingwerden sehr am Herzen liegen, und all das wäre ohne das Mittun der gesamten Pfarrei nicht möglich gewesen.
Ja, wir mussten uns von dem Standort St. Josef trennen. Das ist immer mit Trauer und Schmerzen verbunden. Das nehme ich sehr ernst. Aber ich hoffe, wir konnten noch viele gute Erlebnisse und Stunden dazulegen, bevor wir die Lichter löschen mussten. Und mit der guten Nachnutzung der Kirche und dem Umbau der Michaelskapelle hoffe ich, dass zu dem weinenden Auge auch ein lachendes dazukommen kann. Der erste Gottesdienst war schon ein guter Start an diesem neuen Kirchort.
Auch was den Ausbau der Kita St. Elisabeth angeht, kommt langsam Bewegung ins Spiel. Ich hoffe sehr, dass es nun schneller vorangeht.
So haben diese beiden Themen für uns als Pfarrei nicht nur traurige Seiten. Es ist eine Zeit, in der wir uns für die Zukunft aufstellen. Und das bedeutet: Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass wir immer weniger Christen und Christinnen werden und unsere Infrastruktur anpassen. Aber wir tun dies nicht ohne einen Plan für die Zukunft.
Allein dem Missbrauchsvorwurf kann ich keine positiven Seiten abgewinnen. Der Vorwurf betrifft uns als gesamte Pfarrei, also nicht nur Nachrodt-Wiblingwerde. Die damit verbundenen Sorgen tragen wir gemeinsam.“
Bischof Franz-Josef Overbeck hat es betont: Die Zeiten ändern sich. Es gilt, den Blick nach vorne zu richten. Es scheint, als täten die Nachrodter genau das. Der Abschied fiel zwar schwer, aber alle scheinen zufrieden zu sein. Wie ist Ihnen als Pfarrei das gelungen? Oder ist dieser Eindruck vielleicht falsch?
„Es wird wohl nicht möglich sein, dass alle Menschen, die eine Veränderung betrifft, zufrieden sind. Aber ich habe auch wahrgenommen, wie viele Gemeindemitglieder mit der gefundenen Lösung ihren Frieden gemacht haben. Das freut mich sehr. Wir haben uns bemüht, neben den guten Erlebnissen, die wir geplant haben, auch immer wieder möglichst viele Menschen aus der Gemeinde mit ins Boot zu holen, mit zu planen und zu überlegen, Rückmeldung zu geben und sich einzubringen. Dieses Angebot haben viele wahrgenommen. So konnten wir auf viele Wünsche und Hinweise eingehen. Ich denke, das könnte auch mit dazu beigetragen haben, dass die Menschen die Umstellung aktiv mit gestalten konnten und so den Weg in die Zukunft innerlich mitgehen können.“

Wir haben in den vergangenen Wochen viele Gespräche mit Gemeindemitgliedern geführt und es gab doch ein wenig Kritik. Es kam drei oder vier Mal: „Seit Frau Schnell da ist, war klar, dass es hier keine Zukunft gibt. Sie hat sich gar nicht bemüht. Man hätte mehr tun können. Aber es ist ja nicht zu ändern.“ Was ist da dran? Haben Sie nicht alles versucht? Sind sie von der katholischen Kirche eingesetzt worden, um St. Josef aufzugeben?
„Nein, ich bin nicht gekommen mit dem Auftrag, den Standort St. Josef zu schließen. Aber zu meinen Aufgaben gehört es, die Beschlüsse des Pfarreientwicklungsprozesses aus den Jahren 2015 bis 2017 umzusetzen, Beschlüsse also, die vor meiner Zeit gefasst wurden. Bereits zu dieser Zeit war klar, dass wir die Gebäude und Kirchen St. Josef in Nachrodt und St. Theresia in Altena-Evingsen auf Dauer nicht würden tragen können. Für beide Standorte gab es jedoch keinen guten Plan für die Zukunft. Für St. Josef gab es die Idee, Gemeindeheim und Gottesdienstraum in der Kirche zu verknüpfen und eventuell nur das Vereinshaus und das Pfarrhaus zu verkaufen. Zu Beginn meiner Zeit in St. Matthäus haben wir diese Möglichkeit geprüft, mit Architekten gesprochen, Kostenrechnungen aufgestellt und gemerkt: diese Idee wird nicht realisierbar sein – auch nicht mit einzelnen Vermietungen. Der Umbau wäre teuer und kompliziert geworden und eine gute Auslastung der umgebauten Kirche war nicht erkennbar. Und so mussten wir neue Möglichkeiten in den Blick nehmen. Es wurde schnell klar, dass wir uns aufgrund der hohen finanziellen Belastung und der schlechten Auslastung der Räume von dem Standort würden trennen müssen.
Seitdem war die Planung für die Zukunft der Gemeinde und der Gebäude St. Josef sehr zeitintensiv. Ich kann die Sicht der Gemeindemitglieder nachvollziehen, wenn sie sehen, dass wir in diesem Jahr die Kirche schließen mussten. Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, würde ich allerdings sagen, dass wir uns sehr, sehr, sehr bemüht haben, eine Zukunft für die Gemeinde St. Josef zu finden. Es gab keinen Arbeitsbereich, in den ich so viel Zeit und Energie aufgewendet habe, wie diesen. Ja, es ist jetzt eine Zukunft ohne die Kirche St. Josef, die viele gern erhalten hätten. Das wäre mir auch am liebsten gewesen. Doch wenn wir uns zukunftsfähig aufstellen wollen, wäre das leider keine realistische Alternative gewesen. Und alle, die im letzten Jahr unsere Gottesdienste in St. Josef besucht haben, haben dies am eigenen Leib erfahren. Nun haben wir auch Geld in die Hand genommen – was längst nicht selbstverständlich ist – , konnten damit aber die eh renovierungsbedürftige Friedhofskapelle zeitgemäß umgestalten und sie zudem als Gottesdienstort etablieren. Der Friedhof ist ja ein fester Bestandteil unserer Pfarrei. Von ihm werden wir uns vorerst nicht trennen. Und so war diese Investition zukunftsfähig in beiderlei Hinsicht: für die Nutzung als Trauerhalle und als Gottesdienstort.“
Sie sind engagiert, probieren immer wieder neue Konzepte und ich denke, man merkt, dass durchaus frischer Wind in der Gemeinde weht. Wie sehr schmerzt dann diese oben genannte Kritik?
„Wenn ich diese Bemerkungen lese, macht mich das natürlich traurig. Ich habe mich wirklich nach Kräften bemüht, eine gute Lösung für die Gemeinde St. Josef zu finden. Ich denke, die Menschen erleben mich als engagiert und tatkräftig. Wenn ein solches Engegement in eine Richtung geht, die nicht gewünscht ist, ist das allerdings bestimmt auch schwer auszuhalten.“
Was muss die katholische Kirche verändern, um wieder mehr Menschen anzulocken und zu begeistern?
„Das ist eine sehr große Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Wenn Menschen mit der Kirche schlechte Erfahrungen machen, wenden sie sich ab. Das ist leider in der Vergangenheit oft geschehen. Die vielen Missbrauchsvorwürfe machen es uns zusätzlich schwer, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, erst recht, wenn ein solcher Vorwurf vor Ort entsteht.
Daher denke ich, dass ein Weg für uns als Kirche sein könnte, den Menschen vor Ort positive Erfahrungen mit uns als Kirche zu ermöglichen und so möglicherweise auf Dauer ihr Vertrauen wiederzugewinnen. Die Zukunft der Kirche sehe ich persönlich vor allem darin, dass wir für die Menschen da sind, die unsere Hilfe brauchen.“
Wie sieht ihrer Meinung nach die Zukunft der katholischen Kirche in Nachrodt aus? Sie haben gesehen, dass Events super funktionieren. Setzen Sie vielleicht mehr auf einmalige Sachen als auf die sonntägliche Messe?
„Diese Frage werden wir noch zu klären haben. Die einzelnen großen Veranstaltungen dieses Jahres waren ganz bestimmt positiv für die Kirche in Nachrodt-Wiblingwerde. Sie waren allerdings nur mit sehr viel Unterstützung der Pfarrei möglich.“

Die kfd ist die regste Gruppe aus St. Josef. Die Frauen treffen sich jetzt in Altena und sind zufrieden damit. Haben Sie keine Angst, dass die katholische Kirche in Nachrodt-Wiblingwerde komplett aus der Öffentlichkeit verschwindet und was tun sie dagegen?
„Nein, diese Angst habe ich tatsächlich nicht. Die kfd-Frauen sorgen schon selbst dafür, dass ihre Anliegen in der Presse vertreten sind. Auch unsere weiteren Themen werden sicher in Zusammenarbeit mit den Zeitungen und Online-Zeitungen gut in die Öffentlichkeit kommuniziert werden. Da sich immer weniger Menschen in der Kirche engagieren, werden wir womöglich auch weniger Aktionen stemmen können. Aber das, was wir tun, tun wir mitten im Ort.“
Woran liegt es, dass nur noch so wenig Katholiken in Nachrodt zu begeistern sind?
„Das ist kein Phänomen von Nachrodt und Wiblingwerde. Diese Entwicklung sehen wir allerorten. Dort wo bisher nur ein kleiner aktiver Kreis war, macht es sich schneller bemerkbar, wenn auch dieser kleine Kreis noch kleiner wird.“
Warum ist Kirche Ihrer Meinung nach durchaus attraktiv?
„Wir haben eine Botschaft, die bleibt: Der Glaube an Jesus Christus macht das Leben leichter. Er schenkt Freude, Gemeinschaft, Hoffnung und Trost in schweren Zeiten und über den Tod hinaus.
Wen das nicht attraktiv ist…“
Oft heißt es „Glauben ist etwas privates und man braucht keine Kirche, um zu glauben und mit Gott ins Gespräch zu kommen.“ Ist das richtig? Was würden Sie antworten?
„Das kann nur jede und jeder für sich beantworten. Wenn Sie mich fragen, ist die Gemeinschaft der Gläubigen sehr wichtig. Wir können uns gegenseitig Freude und Hoffnung schenken und Trost und Zuversicht in den schlechten Zeiten. Womöglich können Menschen auch ohne diese Unterstüzung und Wertschätzung glauben. Für mich wäre das schwer.“
Wir können die Sache mit dem Missbrauchsvorwurf, nicht unter den Tisch fallen lassen. Sie gehört zu diesem Jahr einfach dazu. Ihr Kollege Herr Boxtermann gab sich zutiefst schockiert. Aber komischer Weise blieb das Entsetzen innerhalb der Gemeinde gering. Ist das Thema „sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ schon so normal geworden?
„Auch ich habe mit größeren Auswirkungen gerechnet. Ich weiß, dass viele Gespräche in kleinen Zusammenhängen geführt wurden und das Thema die Menschen mehr bewegt hat als es sichtbar wurde. Das ist ja auch verständlich. Normal kann das Thema niemals werden, nicht in der Kirche und nicht anderswo.“
Die katholische Kirche hat einen durchaus umstrittenen Umgang mit diesem Thema. Es wird zwar gesagt, man wolle offen mit dem Thema umgehen, aber so richtig klappt das nicht. Stattdessen werden eigene Begrifflichkeiten erfunden, die sogar bei der Staatsanwaltschaft eher für Schmunzeln sorgen und so richtig konsequent passiert auch nichts. Da heißt es „wir haben uns mit dem Sachverhalt noch nicht im Detail befasst“. Was ist ihre persönliche Meinung? Ist der Umgang mit dem Thema gut und richtig? Oder sollte sich etwas ändern, um nicht noch mehr Menschen zu verlieren?
„Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, wie sich der Umgang mit diesem Thema in unserem Bistum in den letzten Jahren gewandelt hat. Er bewirkt natürlich, dass sich Betroffene nun immer mehr trauen, von dem zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Dadurch kommen mehr Fälle zum Vorschein. Für betroffene Personen ist es sehr wichtig, diese Möglichkeit zu haben. Für die Beschuldigten und die betroffenen Pfarreien wird es nun schwerer. Das spüren wir auch hier in St. Matthäus. Es ist ein sehr sensibles Thema und es können schnell schwere Verletzungen zum Beispiel der Persönlichkeitsrechte entstehen. Daher ist die Kommunikation mit der Presse sensibel. Die Konsequenz, mit der das Bistum auf eingehende Vorwürfe reagiert, ist inzwischen sichtbar geworden. Im Moment laufen die polizeilichen Ermittlungen. Das braucht seine Zeit. Dazu habe natürlich auch ich keine näheren Informationen.“
Es ist schon der zweite Fall in der Pfarrei. Was ist aus dem ersten geworden? Gab es einen Prozess? Oder ist der einfach in Vergessenheit geraten?
„Der erste Vorfall aus dem Jahr 2019 ist inzwischen vor dem Amtsgericht in Hagen und vor dem kirchlichen Gericht verhandelt worden. Das Bistum Essen nimmt diese Fälle sehr ernst. Entsprechende Kosequenzen wurden gezogen.“
Der Fall damals wirkte erst einmal schlimmer als der aktuelle. Was passiert mit dem aktuellen Beschuldigten? Noch gilt ja auch die Unschuldsvermutung. Wie muss man sich das vorstellen? Sitzt er jetzt auf der Straße? Sorgt die Kirche weiter für ihn?
„Der Priester ist vom Dienst freigestellt und wartet auf die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen. Ob es zu einem Prozess kommt, ist noch offen. Er ist weiterhin Priester des Bistums Essen, das sich um sein finanzielles Auskommen sorgt.“
Themenwechsel. Wir haben jetzt viele kritische Fragen gestellt. Aber es ist ja nicht alles schlecht – im Gegenteil. Worauf freuen Sie sich in Ihrer Pfarrei 2024?
„Wir haben gerade eine intensive Erstkommunionvorbereitung. Das macht mir viel Freude und ich freue mich auf viel weitere Erlebnisse mit den Kindern und Familien. Im Jahr 2024 wird unsere Gastro-Ape in den Sommermonaten möglichst oft unterwegs sein. Wir haben schon sehr gute Erfahrungen gemacht und ich freue mich auf neue Ideen und Orte und auf viele gute Begegnungen. Es wird auch weitere Segensgottesdienste und Segen to go geben. Das haben auch Menschen wahrgenommen, die nicht zu unserer Gemeinde gehören. Und Weihbischof Schepers kommt im Frühling zur Visitation.“
Warum glauben Sie, dass die katholische Kirche Zukunft hat?
„Wie die Zukunft der Kirche aussieht, ist schwer zu sagen. Aber ich bin sicher, dass es immer Menschen geben wird, die sich aufgrund ihres Glaubens in der Gesellschaft einsetzen.“

Was treibt Sie an, sich jeden Tag für die Pfarrei und den Glauben einzusetzen?
„Der gute Gott hat mich mit einer großen Portion Energie und Ideenreichtum ausgestattet. Vermutlich hatte er so seine Gründe. So habe ich eigentlich jeden Tag einen guten Grund, aufzustehen und mich im Sinne Gottes auf den Weg zu machen.“
Was macht die Pfarrei St. Matthäus lebens- und liebenswert?
„Ich erlebe die Pfarrei St. Matthäus als eine sehr lebenswerte Pfarrei. Hier engagieren sich Menschen zu Wohle aller. Fremde werden gern aufgenommen. Neue Wege werden beschritten. Es gibt ein gutes Miteinander und einen engen Zusammenhalt. Man unterstützt sich gegenseitig. Ich hoffe, alle fühlen sich bei uns wohl und willkommen.“
Was sind Ihre Wünsche für die Katholiken in Nachrodt-Wiblingwerde?
„Ich wünsche mir, dass sich die Gemeindemitglieder in Nachrodt und Wiblingwerde anfreunden können mit der neuen Situation, die wir nun geschaffen habe. In Zukunft wird es immer wichtiger sein, über den Tellerrand zu schauen und sich mit den Nachbarorten zu solidarisieren. Wenn in Nachrodt nicht mehr alles stattfinden kann, wünsche ich mir, dass sich die Menschen auf den Weg machen und Anknüpfungspunkte an anderen Orten finden, vielleicht in Altena.“
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