Das Sterben ist ein Teil des Lebens und doch berührt es jeden auf besondere Weise. In stillen Räumen der Pflegeheime, auf Friedhöfen, bei Abschieden in der Familie oder in Hospizen wird der letzte Weg begleitet – geprägt von Ritualen, Entscheidungen und Momenten voller Nähe und Verlust. Wie Menschen sterben, trauern und erinnern erzählt viel über das Leben selbst. Für die Reportagereihe „Wie sterben Menschen heute?“ besuchten die LokalDirekt-Volontäre Amaris Seegmüller und Paul Hösterey sowie Praktikantin Carlotta Warmuth Einrichtungen, die täglich mit dem Lebensende konfrontiert sind. Teil 4 der Serie umfasst einen Besuch im Arche Care Haus in Lüdenscheid.
Es ist ein stiller Vormittag im Arche Care Haus. Durch die Flure zieht der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee, irgendwo summt ein Wasserkocher. Vierzig Menschen leben hier – nicht in einem klassischen Altenheim, sondern an einem Ort, der zwischen Alltag und Fürsorge seine Mitte gefunden hat: begleitetes Wohnen unter einem gemeinsamen Dach und ein ambulanter Hospizdienst, der dorthin geht, wo die Menschen leben. Wer Unterstützung im Alltag braucht, bekommt sie in den Wohnungen des Hauses. Und wer auf seinem letzten Weg Begleitung braucht, wird nicht allein gelassen — ob im eigenen Zimmer oder in vertrauter Umgebung bei sich daheim.
Ein Haus mit Geschichte
Von außen wirkt das Haus unscheinbar: Ein ruhiger Bau in Lüdenscheid, hell gestrichen, ein paar Schritte abseits der Straße. Doch sobald man eintritt, spürt man: Hier ist über die Jahre ein Raum gewachsen — einer, in dem Menschen so sein dürfen, wie sie sind, auch ganz zum Schluss.
Ute Gall, Leitung des Arche Care Hauses, setzt sich an den großen Holztisch im Gemeinschaftsraum, als sie anfängt zu erzählen. Ihre Stimme ist ruhig, wirkt getragen von all dem, was sie erlebt hat. „Ich habe das ambulante Hospiz 2006 hier aufgebaut“, sagt sie und faltet die Hände vor sich auf dem Tisch. „Damals ehrenamtlich — einfach, weil es nötig war.“
2015 änderte eine neue Gesetzgebung die Rahmenbedingungen: Altenpflegeeinrichtungen mussten mit Hospizdiensten kooperieren. Einrichtungen aus Halver und Altena klopften an die Tür. „In Altena haben wir 15 Ehrenamtliche gefunden, in Halver über 30“, erinnert sich Gall, als würde sie die Gespräche noch einmal durchlaufen. „Danach brauchten wir noch hauptamtliche Koordinationsfachkräfte, die unsere Ehrenamtlichen ausbilden und koordinieren."
Kurz darauf entstand der Verein „Die Arche Lüdenscheid“ — ein Name, der wirkt wie ein Versprechen: Schutz in stürmischen Zeiten.
Und die "Stürme" ließen nicht lange auf sich warten: Mit der Zeit kamen immer mehr Menschen. „Es ergab sich, dass wir immer mehr Familien begleitet haben, bei denen Kinder dabei waren. Dadurch ist die Trauerarbeit mit in den Fokus gerückt. Somit haben wir erst ehrenamtlich die Trauerarbeit aufgebaut, hinterher auch hauptamtlich“, sagt Gall. Zehn Trauergruppen, Einzelgespräche, Trauerfrühstücke: „Wir führen 500 bis 600 Gespräche im Jahr“, sagt Gall. „Tendenz steigend.“
Das Prinzip der Arche: Da sein, wenn das Leben schwer wird
Die drei Koordinatorinnen — neben Ute Gall sind dies Bianka Franke und Anette Voß — arbeiten eng zusammen. Ob Pflegeberatung, ambulanter Dienst, Hospizbegleitung oder Trauerarbeit: Alles ist fest miteinander verwoben. „Das Care Haus ist kein Altenheim, es ist ein begleitetes Wohnen. Die Bewohner leben selbständig, aber mit Fürsorgebedarf“, erklärt Gall. Der ambulante Hospizdienst hingegen arbeitet nicht stationär. „Wir gehen zu den Menschen nach Hause. In ihre Wohnungen, in Pflegeeinrichtungen — dahin, wo ihr Leben ist. Wir begleiten psychosozial, nicht pflegerisch. Dafür schenken wir ihnen Zeit.“
Manchmal sei es nur diese Anwesenheit, die den Unterschied macht. „Zeit ist unser größtes Gut“, sagt Bianka Franke und ihr Blick wird weich. „Manchmal sitzen wir einfach nur da — und tun gar nichts. Das ist schwerer als man denkt. Aber oft genau das, was guttut.“ Sie erinnert sich an einen Mann, der schwer an Krebs erkrankt war. Seine Ehefrau schöpfte Kraft aus dem Sportstudio, konnte sich aber dennoch kaum von ihm losreißen. „Ich habe ihr gesagt: Ich komme zweimal die Woche, dann gehst du drei Stunden trainieren — ich bin da. Und andere wiederum brauchen uns für ganz unterschiedliche Dinge, manche zum Zuhören, aber auch zum Schweigen.“
Anette Voß ergänzt: „Viele Angehörige haben Angst: 'Es passiert wahrscheinlich nichts in den drei Stunden, aber es könnte ja. Und dann ist keiner da.' Diese Sorge wiegt bei ihnen schwerer als alles andere.“
Ehrenamt — das Herz der Arche
Rund 100 Ehrenamtliche gehören zum Netzwerk, darunter Menschen aus allen Lebensbereichen: Der Postbote, die Hausfrau, die Bürokraft. „Einige sagen: 'Ich wurde einmal so gut begleitet, das will ich weitergeben.' Andere berichten, die Begleitung bei ihren Angehörigen sei katastrophal gewesen und dass sie es besser machen möchten“, erzählt Gall.
Alle Ehrenamtlichen durchlaufen zunächst eine Hospiz-Ausbildung und müssen sich dabei auch mit ihrem eigenen Tod auseinandersetzen. „Wer das nicht kann, sollte andere Sterbende nicht begleiten. Es ist nunmal kein leichtes Ehrenamt. Es ist mit ganz vielen Emotionen verknüpft und natürlich auch mit dem 'Leben am Ende'“, sagt Gall.
Die Koordinatorinnen suchen daher stets „den passenden Deckel zum Topf“. Wer passt zu dieser Familie, zu dieser Lebensgeschichte? Unterstützt wird das Team von einem großen palliativen Netzwerk: Pflegedienste, Palliativärzte, Konsiliarärzte, Trauerbegleiter. Eine 24-Stunden-Bereitschaft, wenn Wunden versorgt werden müssen, gehört für die Ärzte ebenso dazu.
Der Wunsch zu Hause zu sterben — und die Grenzen
Die meisten Menschen möchten in vertrauter Umgebung sterben. „Werden sie gefragt, sagen fast alle: Ja, ich will zu Hause sterben. Manchmal ist das aber nicht möglich, weil dafür kein entsprechendes Netzwerk gegeben ist. Selbst mit allen Menschen, die drum herum sind“, meint Gall. „Alleine schaffen die Angehörigen das nicht.“
Manchmal sei die Einsamkeit das größte Hindernis. Franke erinnert sich an einen jungen Mann, der ganz allein in einer dunklen Kellerwohnung lebte: „Unsere Ehrenamtliche war die Einzige, die regelmäßig zu ihm kam. Das heißt, das Thema Sterbebegleitung betrifft nicht nur alte Menschen, oder Leute, die an Demenz oder Krebs erkrankt sind, sondern auch Junge. Und das ist immer besonders eindrücklich: wenn junge Menschen erkranken.“
Das Bild vom Windlicht
Uns fällt auf: Im Gespräch taucht immer wieder der Begriff "Windlicht" auf. Nicht, weil eines irgendwo im Raum steht, sondern weil es symbolhaft dafür steht, was die Arbeit im Arche Care Haus trägt. „Wir haben auch unseren Pflegedienst Windlicht genannt. Denn ein Windlicht schützt die Flamme, auch wenn es draußen stürmt", erklärt Gall. "So sehen wir unsere Aufgabe: Das Licht soll nicht ausgehen, wenn der Wind kommt. Das ist eigentlich eine gute Beschreibung der Arche.“
Wenn Begleitungen zu Begegnungen werden
Für alle drei Koordinatorinnen bedeutet Professionalität nicht Distanz. „Sterben ist für uns nichts Bedrohliches“, sagt Gall. „Der Tod gehört zum Leben dazu. Aber trotzdem geht er nicht spurlos an uns vorbei.“ Und manchmal nehmen sie Begegnungen, etwa wenn sich eine Tochter von ihrem sterbenden Vater verabschieden muss, auch besonders emotional mit. "Dann reden wir im Büro darüber, dann wird auch mal zusammen geheult", sagt Gall offen. "Natürlich sollte ich nicht schluchzend zusammenbrechen, aber Emotionen zeigen darf ich. Ich bin schließlich kein Eisblock.“
Die Ehrenamtlichen werden im Laufe der Betreuungszeit selbst Teil des Lebens der Sterbenden. „Ganz oft hören wir: 'Ich freue mich so, dass sie kommen'“, meint Franke. „Auch die Ehrenamtlichen freuen sich, wenn sie helfen konnten und der 'Übergang' ruhig und friedlich war. Man weint zusammen, man schweigt zusammen. Über die Jahre wird man zu einer Vertrauensperson.“
Eine Geschichte ist allen dreien in besonderer Erinnerung geblieben: Eine Ehrenamtliche begleitete stundenlang den Ehemann einer sterbenden Frau. Es wurde kaum gesprochen — nur Stille, nur Nähe. Nachdem der Tod eingetreten war, habe der Mann eine Flasche Sekt geöffnet und gesagt: "Wir stoßen an. Sie war nicht allein. Nie habe ich so eine schöne Begleitung erlebt.“
Menschen sterben unterschiedlich, das erfahren wir bei unserem Besuch im Arche Care Haus. Manche möchten, dass die ganze Familie da ist. Andere warten genau ab, bis der Raum leer ist. „Oft geht jemand genau in dem Moment, in dem die Tochter einmal kurz rausgeht“, sagt Voß. „Derjenige wollte einfach nicht, dass die Tochter dabei sein muss. Das ist ganz individuell und tatsächlich oft auch lenkbar von dem Sterbenden.“
Rituale, die tragen
Rituale gehören zur Arbeit im Arche Care Haus dazu. „Angehörigen sage ich immer: Nehmen sie sich die Zeit, setzen sie sich hin und erzählen sie dem Verstorbenen, was ihnen auf der Seele liegt“, rät Gall. Auch sie selbst hat ein eigenes, schlichtes Ritual: Einen kleinen Stein, den sie zu Beginn einer neuen Begleitung mitnimmt. "Wenn die Begleitung endet, lege ich ihn wieder ab. Ich muss diesen Stein, dieses Gewicht nicht mit mir rumtragen, sondern kann ihn wieder zurückgeben. Aber: Jeder hat ein anderes Ritual, um damit umzugehen.“
Manchmal seien es auch einfache, kleine Gesten, die Hinterbliebenen Halt geben: „Der Verstorbene muss bei uns nicht sofort abgeholt werden. Wir raten immer: Nehmen sie sich die benötigte Zeit“, sagt Gall. „Ein guter Abschied ist unser Herzensanliegen.“
Finanzen und Spenden
Jährlich begleiten die Mitarbeiter der Arche rund 100 Menschen bis zum Ende ihres Lebens. Dabei variiere die Anzahl der abgeschlossenen Begleitungen von Jahr zu Jahr. Abgeschlossen bedeute dabei nicht nur, dass jemand verstorben sei, sondern es umfasst auch jene Fälle, bei denen Menschen wegzögen oder in ein stationäres Hospiz wechseln.
Rund 60 Prozent der Betroffenen benötigten übrigens keine zusätzliche Trauerbegleitung. „Trauer, die gut verläuft, braucht uns nicht“, erklärt Gall. Bei den übrigen 40 Prozent seien die Bedürfnisse unterschiedlich stark ausgeprägt. Und auch die Zeitspanne der Begleitung sei so individuell, wie die Menschen selbst. „Wir lernen die Menschen kennen, bauen Beziehungen auf und sind da, wenn die letzte Phase kommt. Das schafft Nähe und Vertrauen — und gibt den Menschen Sicherheit.“
All das Engagement, all die Zeit, all die Nähe kostet nicht nur Herz, sondern auch Geld. „Unsere Trauerarbeit ist zu 100 Prozent aus Spenden finanziert“, sagt Gall. Die vier Hauptamtlichen würden allein aus Spenden bezahlt, über 100.000 Euro im Jahr. „Der Staat sieht Trauerarbeit leider als Ehrenamt. Auch die Ausbildung der Ehrenamtlichen muss durch Spenden finanziert werden“, betont Gall.
Der ambulante Hospizdienst erhalte zwar Förderung, jedoch keine volle Finanzierung von den Krankenkassen. „Wir können einmal im Jahr einen Förderantrag für abgeschlossene Begleitungen stellen, müssen aber immer in Vorleistung gehen“, so Gall. Zu den nicht-fförderfähigen Bereichen zählen beispielsweise die Autos. „Auch die Bürokosten werden nur zu einem Teil mit gefördert, nicht finanziert“, erklärt Gall und betont: "Ebenso ist das ambulante Hospiz auf Spenden angewiesen“. Es sei ein stiller Balanceakt: "Die Ehrenamtlichen schenken Zeit, Nähe, Halt. Die Spender tragen dazu bei, dass diese Arbeit weitergehen kann."
Sterbehilfe – klare Grenzen
Die Arche begleitet, aber sie hilft nicht beim Sterben. „Das ist ein ganz schwieriges Thema. Wir machen keine Sterbehilfe und beraten auch nicht dahingehend. Ich würde niemals Adressen für Sterbehelfer rausgeben. Das ist nicht meine Aufgabe“, stellt Gall klar. „Viele Menschen sagen zwar: 'Ich möchte sterben', aber das bedeutet nicht automatisch: 'Ich möchte mich suizidieren'. Das muss man ganz klar unterscheiden.“
Tief berührt habe sie die Begleitung eines Mannes, der an ALS erkrankt war: Geistig klar, jedoch körperlich gefangen. „Er hatte mehrere Suizidversuche hinter sich“, erinnert sich Gall. „Wir haben ihn anderthalb Jahre begleitet. Am Ende starb er auf der Palliativstation, gut medikamentös eingestellt, im Beisein seiner Familie.“
„Einsamkeit kann suizidal machen“, sagt Gall leise. „Wir können nicht den seelischen Schmerz nehmen — aber wir können da sein.“ Viele Sorgen würden für Außenstehende klein wirken, seien aber riesig für die Betroffenen: Inkontinenz, der Verlust von Autonomie, Scham. „Viele mögen denken: 'Wenn ich alt bin, bin ich überflüssig'. Aber das stimmt nicht“, betont Gall. Manchmal gehe es aber auch gar nicht um die Krankheit, sondern um Angst vor der Zukunft. Ein älteres Ehepaar habe ihr offen gesagt: „Bevor wir pflegebedürftig oder dement werden, suizidieren wir uns.“ Das Team suchte das Gespräch, bot Aufgaben an, Perspektiven, Gemeinschaft.
Im Arche Care Haus wird nicht über den Tod hinweggetröstet. Die Trauer wird getragen. Von Zeit, von Nähe, von Worten und Schweigen, von Ehrenamtlichen, die Hände halten, wenn andere fehlen. Hier wird deutlich: Sterben ist nicht nur ein medizinischer Prozess. Sterben sind Beziehung und Menschlichkeit. Und manchmal ist es einfach der Schein des Windlichts, das nicht ausgeht, selbst wenn der Sturm um einen herum tobt.
Bislang sind in der LokalDirekt-Serie "Sterben heute" erschienen:
Teil 1: "Der Seniorenpark Reeswinkel begleitet Menschen in ihren letzten Stunden"
Teil 2: " Vom Alltag bis zum Abschied im Seniorenzentrum Bethanien"
Teil 3: "Bestatter Martin Schriever wünscht sich einen offenen Umgang mit dem Tod"









