Das Sterben ist ein Teil des Lebens und doch berührt es jeden auf besondere Weise. In stillen Räumen der Pflegeheime, auf Friedhöfen, bei Abschieden in der Familie oder in Hospizen wird der letzte Weg begleitet – geprägt von Ritualen, Entscheidungen und Momenten voller Nähe und Verlust. Wie Menschen sterben, trauern und erinnern erzählt viel über das Leben selbst. Für die Reportagereihe „Wie sterben Menschen heute?“ besuchten die LokalDirekt-Volontäre Amaris Seegmüller und Paul Hösterey sowie Praktikantin Carlotta Warmuth Einrichtungen, die täglich mit dem Lebensende konfrontiert sind. Teil 2 der Serie umfasst einen Besuch im Seniorenzentrum Bethanien in Halver.
Es riecht nach frisch gebrühtem Kaffee, irgendwo klappert Geschirr. Auf dem langen Flur des Seniorenzentrums Bethanien in Halver läuft eine Pflegefachkraft den Gang entlang. Eine Bewohnerin hebt kurz den Blick, lächelt, nickt. Ein gewöhnlicher Vormittag – und doch ist hier nichts ganz gewöhnlich. In diesem Haus, in dem 111 Bewohner leben, ist auch das Sterben tagtäglich. Es gehört zum Alltag, wie das Anreichen des Frühstücks oder das Vorlesen der Zeitung.
„Das Thema ist hier sehr präsent“, sagt Peter Bernshausen, Seelsorger der Einrichtung. „Wir haben im Schnitt knapp einen Sterbefall pro Woche.“ Seine Stimme bleibt ruhig, aber der Satz hängt im Raum wie ein schwerer Mantel. „In den Wohnbereichen wird sehr offen damit umgegangen, auch bei jedem der hier arbeitet“, erklärt er. „Dieses Unangenehme, dieses Tabuhafte vom Sterben und vom Tod sind aber immer noch ein Thema.“
Ein Haus im Wandel
Bethanien ist ein großes Haus. Drei Wohnbereiche, 70 Mitarbeiter in der Pflege, sechs Auszubildende und ein Wohnbereich, der gerade umgebaut wurde: „Wir haben gemerkt, dass 37 hochdemente Bewohner in einem Bereich einfach zu viel sind – für die Menschen und auch für das Personal. Also haben wir 13 Zimmer abgetrennt, eine neue Küche eingebaut und mehr Ruhe geschaffen“, sagt Alina Kliem, Pflegedienstleiterin. Sie wirkt organisiert, klar, zugewandt – jemand, der weiß, wie schwer und wie schön Pflege sein kann, oft gleichzeitig.
Das Haus selbst hat keine Palliativstation. „Wir haben aber ausgebildete Palliativfachkräfte und zusätzlich den Herrn Bernshausen, der in seiner Rolle als gesundheitlicher Versorgungsplaner mit in die Versorgung reingeht“, erklärt Kliem. „Bei uns haben wir in der Regel das Verhältnis eins zu fünf.“ Das bedeutet, ein Pfleger kommt auf fünf Bewohner.
Der Alltag – ein fester Rhythmus
Natürlich hat das Seniorenzentrum klare Strukturen: Aufstehen, Frühstück, Betreuungsangebote, Mittagessen, Mittagsruhe, Kaffeestunde, Abendessen, Abendpflege. Ein Tagesablauf, der vielen Halt gibt. Zwischen diesen Fixpunkten leben die Bewohner mal mehr, mal weniger selbstbestimmt weiter: Sänger treten auf, Kindergartenkinder besuchen das Haus, Alpakas, Hunde und Miniponys bringen Leben und weiche Schnauzen in den Wohnbereich. Eine Ergotherapeutin macht Gymnastik, manche Bewohner fahren mit dem Bürgerbus durch die Stadt, andere gehen einfach ein Stück spazieren – so weit die Beine noch tragen. Aber über allem schwebt die Frage: Was passiert, wenn dieser Alltag zu Ende geht?
Wenn das Sterben beginnt
Wenn jemand im Sterben liegt, ändert sich im Haus fast unmerklich alles. Angehörige kommen und gehen häufiger, manche bleiben, solange es nötig ist. „Wir haben keine festgelegten Besuchszeiten - erst recht nicht, wenn jemand stirbt“, sagt Kliem. „Die Angehörigen dürfen nachts bleiben. Wir stellen ihnen dann auch einen Schlafsessel ins Zimmer. Manche bringen sogar Schlafanzüge mit und machen es sich hier bequem.“
Sie erzählt von einer Familie, die ein kleines Campinglager im Zimmer aufbaute: „Wir hatten mal eine Bewohnerin, bei der die Familie sich tatsächlich immer abgewechselt hat. Sie haben im Zimmer ein kleines Campinglager aufgebaut und haben auch die ganze Nacht hier verbracht. Sie sind dann mit Schlafanzügen über den Wohnbereich gelaufen und haben sich morgens schon Kaffee geholt.“
Manchmal ist ein Pfleger beim letzten Atemzug dabei. Manchmal der Seelsorger. Manchmal niemand – außer dem Bewohner selbst. Der Tod nimmt sich Zeit oder überfällt, er ist still oder laut. Aber nie gleich. Ob jemand in Frieden sterben kann, hängt oft auch von Bindungen ab. „Man merkt es, wenn der Bewohner eine familiäre Bindung hat und das Umfeld gefestigt ist. Dann ist es ein anderes Sterben“, erläutert Kliem. „Weil er gewisse Angehörige nochmal sehen möchte oder ungesagte Dinge nochmal aussprechen und klarstellen möchte. Es kommt immer wieder vor, dass man das Gefühl hat, körperlich müssten sie eigentlich am Ende sein, aber sie können nicht loslassen.“
Ein Seelsorger zwischen Trost und Stille
„Ich komme dazu, setze mich ans Bett, rede leise, lese aus der Bibel oder singe ein Lied“, erzählt Bernshausen. „Die Sterbebegleitung ist eine primäre Aufgabe des Seelsorgers." Auch Angehörige finden in ihm Halt. Manche weinen, manche schweigen, manche lachen sogar – weil Erinnerungen manchmal trösten. „Die Angehörigen des Bewohners werden auf jeden Fall mit einbezogen. Sie kommen dann und besuchen den Angehörigen im Idealfall häufiger, wenn es zu Ende geht“, betont Bernshausen.
Rituale gegen das Verschwinden
Wenn jemand verstirbt, wird ein kleines Ritual gestartet: Eine Trauerbox wird geholt, ein Holzkreuz, LED-Kerzen, ein Tuch auf dem Nachttisch. „Wenn ich es schaffe, mache ich eine Aussegnung“, sagt Bernshausen. „Im Idealfall mit den Angehörigen. Es gibt einige wenige, die sich bewusst als Agnostiker verstehen. Da bin ich dann sehr zurückhaltend und mache nur eine allgemein menschliche Begleitung zum Sterben hin. Wir nehmen da sehr viel Rücksicht drauf“, betont er.
Manchmal folgt später eine Gedenkfeier im Andachtsraum, besonders wenn jemand lange im Haus gelebt hat. Dann sitzen Bewohner und Mitarbeiter zusammen, erzählen Anekdoten, lachen, schweigen. Für einen Moment wird die verstorbene Person zurück in die Mitte geholt – bevor sie endgültig geht.
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Die Stille zwischen zwei Leben
Pflegefachkräfte im Seniorenzentrum Bethanien erleben viel. Zu viel, manchmal. „Die Nähe und Distanz muss man lernen“, sagt Kliem. „Sonst nimmt man alles mit nach Hause.“ Sie spricht offen darüber, wie es ist, mit den Angehörigen umzugehen, Notfälle oder Reanimationen zu erleben und redet über Momente, in denen Bewohner von alten Erinnerungen erzählen. „Das geht an einem auch nicht spurlos vorbei. Das Ganze von seinem Privatleben abzugrenzen ist schon anstrengend. Deswegen sollte auch jeder Mitarbeiter offen mit dem Thema umgehen und die Chancen nutzen, sich an unseren Seelsorger oder aber auch an mich als Pflegedienstleitung zu wenden. Wir sind jederzeit ansprechbar, egal worum es geht.“
Dabei sei es für sie auch wichtig, sich einen Ausgleich im Privatleben zu suchen. „Dass man nicht von der Arbeit nach Hause kommt und den ganzen Tag nur auf der Couch liegt. Dann versinkt man in seinen Gedanken, das ist nicht so gut wie beispielsweise Sport, spazieren gehen oder lesen. Für mich persönlich ist auch ein stabiles, privates Umfeld essentiell wichtig. Und gute Kollegen“, erklärt Kliem.
Corona, Fachkräftemangel und neue Ausbildungen
Auch während Corona musste das Seniorenzentrum weiter funktionieren. „Maske tragen war hier an der Tagesordnung. Wir haben eigentlich alles geschützt, was ging: Wir haben Visiere, Schutzkittel und Haarhauben getragen. Auch Überzieher für die Schuhe“, meint Kliem.
Auch der Pflegefachkräftemangel sei spürbar: „Im Bereich der Pflege merkt man schon, dass die Zeit mit dem Bewohner und die Zeit am Bett immer weniger wird. Wir versuchen das hier trotzdem aufrechtzuerhalten. Hauptsache, der Bewohner ist gut gepflegt, fühlt sich wohl und wird mit Würde behandelt. Das steht bei uns immer noch an erster Stelle. Aber die Zeit, sich wirklich intensiv mit dem Bewohner zu beschäftigen und sich auch mal über ganz banale Dinge zu unterhalten, die ist einfach aufgrund des Pflegekräftemangels oftmals nicht gegeben. Deswegen sind wir froh, dass wir die Möglichkeit haben, durch den Palliativdienst, die Arche, unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter oder durch Herrn Bernshausen unterstützt zu werden“, bekräftigt Kliem.
Auch die Ausbildung der neuen Pflegefachkräfte hat sich über die Jahre verändert. So hat die Ausbildung zum „generalistischen Pflegefachmann“ die des „Krankenpflegers“ abgelöst. „Die Schüler können sich hinterher aussuchen, wo sie arbeiten möchten. Alles, was das Krankenhaus zu bieten hat, in Altenpflegeeinrichtungen, ambulanten Diensten und in manchen Kindergärten“, erklärt Kliem. „Das Krankenhaus ist meist attraktiver. Da gibt es viel mehr Fachliches, was man sieht. In der Altenpflege ist es viel Beziehungsgestaltung und Kommunikation mit den Bewohnern.“
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Glaube und Selbstbestimmung
Bethanien ist ein christlich geprägtes Haus, aber kein missionarisches. „Ich nehme Rücksicht auf jeden Glauben und Nichtglauben“, sagt Bernshausen. Er sieht vieles: Menschen, die sterben wollen. Menschen, die nicht sterben können. Menschen, die den Himmel fürchten. Menschen, die auf ihn hoffen.
Sterbehilfe lehnt der Träger ab, aber: „Was im privaten Zimmer geschieht, solange niemand geschädigt wird, können wir nicht verbieten“, erklärt er. „Wir dürften uns aber nicht aktiv daran beteiligen. Wir hatten bisher auch weder einen aktiven noch einen passiven Fall von Sterbehilfe in der Einrichtung. Der Wunsch danach hat bei den Bewohnern oft spirituelle Aspekte, wo sie zu mir als Seelsorger dann sagen: 'Warum holt der liebe Gott mich nicht?'. Sehr viel seltener ist es aber, dass sie sagen 'Ich möchte meinem Leben jetzt ein Ende setzen'“, erklärt er. „Dann reden wir natürlich darüber und würden dann auch eine Fallbesprechungen in einem interdisziplinären Team machen."
Kliem ergänzt: „Was in der Praxis immer mal wieder vorkommt, ist das so genannte „Sterbefasten“. Das heißt ein Bewohner verzichtet von sich aus auf die Aufnahme von Nahrung oder Flüssigkeiten, was den Tod beschleunigt. Da haben wir keine Handhabe und wollen das auch nicht, weil das der freie Wille des Bewohners ist.“
Persönliche Antworten auf eine große Frage
Im Gespräch stellt LokalDirekt die Frage, die wohl jeder für sich irgendwann beantworten muss: Wie würden Sie selbst sterben wollen? Kliem zögert kaum: „Schmerzfrei. Das ist für mich das Wichtigste. Und meine Liebsten um mich herum. Ich möchte hinterher nicht traurig darüber sein, dass irgendjemand nicht da war oder dass ich etwas, was ich unbedingt machen wollte, nicht gemacht habe. Ich möchte einfach friedlich und glücklich, ohne Schmerzen im Kreise meiner Liebsten einschlafen.“
Dabei hatte ihre Ausbildung auch einen großen Einfluss auf ihren Umgang mit dem Thema. „In der Anfangszeit war es ganz schlimm. Man fängt dann auch in jungen Jahren schon an, über Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen nachzudenken. Die Arbeit hat also schon einen großen Einfluss auf das Denken und auf das Handeln. Man wird verantwortungsvoller.“
Auch Bernshausen meint: „Ich bin überzeugter Christ und glaube auch an das, was ich vertrete. Von daher ist es für mich kein schwieriges Thema. Ich hätte schon längst alles vorbereitet, sprich Lieder ausgesucht und was genau auf meiner Beerdigung laufen soll. Meine Frau ist da ein bisschen anders. Sie ist zwar genauso gläubig wie ich, aber sie tut sich schwer mit diesem Gedanken. Von daher bin ich eher zurückhaltend, aber am liebsten würde ich alles schon vorbereiten.“ Auch er möchte am liebsten im Kreis seiner Angehörigen versterben: „Ich möchte, dass die Menschen, die mir am nächsten sind, vor allem meine Frau, bei mir sind“, betont er.
Am Ende zeigt das Seniorenzentrum Bethanien, dass Sterben zwar alltäglich ist, aber nie gewöhnlich wird. Jeder Abschied trägt eine eigene Farbe, einen eigenen Ton, einen eigenen Schmerz und eine eigene Wärme. Pflegefachkräfte, Seelsorger und Angehörige versuchen, diesen letzten Weg so würdevoll wie möglich zu gestalten – mit Ritualen, Nähe und einem offenen Blick für das, was ein Mensch noch braucht. Sterben wird dadurch nicht leichter, aber begreifbarer. Und vielleicht ein wenig menschlicher.











