Es ist 6.30 Uhr. Marlene öffnet die Augen. „Mama, wie lange noch?“ Verschlafen verstehe ich noch nicht so ganz, was die Sechsjährige von mir möchte. „Mama, heute ist doch St. Martin“, sagt sie entrüstet. Wie konnte ich nur diesen alles entscheidenden Tag neben Nikolaus, Ostern, Weihnachten und Geburtstag vergessen. Seit Tagen freuen sich die Kinder auf diesen Tag. Und nicht nur die Kinder. „Ich muss gleich noch los. Wie viele Kinder sind es?“, fragt der Opa beim Frühstück. Im heimischen Supermarkt ist das ganze Dorf zu treffen. Alle haben ihren Einkaufswagen voll mit Süßigkeiten. Denn wenn die Kinder kommen, muss man als Rennerder vorbereitet sein. Nicht mitmachen – das geht nur, wenn man im Urlaub ist. Für die Neu-Rennerder gab es sogar extra eine Erklärung in der heimischen WhatsApp-Gruppe, damit auch wirklich nichts schief geht.
Auf dem Edeka-Parkplatz wird noch kurz diskutiert. „Also im Oberdorf sind es doch 5 Kinder“, zählt der eine auf. „Ja, aber da ist ja jetzt auch noch eine Familie mit Kindern“, weiß der Nachbar. Es hilft ein kurzer Blick in die WhatsApp-Gruppe. 20 Kinder, so steht es da. Sprich in den Korb müssen 20 gleiche Teile. Und auch da gibt es irgendwie ungeschriebene Gesetze. Bei einer Familie ganz am Anfang gibt es immer Trinkpäckchen. Unten im Dorf ist eine Familie mit Schoko-Adventskalendern. Und bei uns gibt es immer die klassische Martinsbrezel. Die sind bestellt, müssen aber noch abgeholt werden. Noch ein To-Do.
Die Bürgermeisterin Birgit Tupat, die ebenfalls Rennerderin ist, entschuldigt sich derweil. Sie hat Ratssitzung. Süßigkeiten gibt es trotzdem. Ihren Anteil gibt sie bei ihrer Schwester ab. Ein anderes Paar ist nicht da, weil es arbeitet. „Die Süßigkeiten stehen vor der Haustür“, schreiben sie in die Gruppe. Ein ganzes Dorf ist vorbereitet auf die 20 Kinder, die bei Einbruch der Dunkelheit losziehen werden.
In den Familien herrscht ein wenig Stress. Es soll regnen – und zwar nicht wenig. Marlene ist beleidigt, sie möchte keine Matschhose anziehen. Außerdem fehlt eine durchsichtige Mülltüte. Der Mann hat braune biologisch abbaubare Müllsäcke gekauft. Prinzipiell löblich, nur aktuell wenig hilfreich. Ein Anruf bei der Nachbarin. Sie geht nicht dran. Die kleine Maus protestiert derweil gegen die Gummistiefel. Sie möchte lieber Sandalen mit Glitzer anziehen. Die nächste Nachbarin geht ans Telefon. „Wir brauchen noch zwei durchsichtige Mülltüten, um die Laternen zu schützen, kannst du helfen?“ Natürlich kann sie. Die Sechsjährige wird geschickt, die Tüten zu holen. Derweil wird das kleine Kind angezogen. Noch zehn Minuten dann müssen wir am Treffpunkt sein. „Mama, meinst du eine Tüte reicht oder nehmen wir besser jeder eine“, fragt die Sechsjährige. „Jeder eine und zieh jetzt endlich deine Matschhose an“, fordere ich meine Tochter auf. Mama, wo sind eigentlich die Brezeln. Brezeln? Stimmt, die liegen noch im Auto. Die müssen noch schnell in den Flur.
Wir schaffen es pünktlich zum Treffpunkt. Und leider nicht nur wir, sondern auch der Regen. Es schüttet, der Wind weht. Ein Traum für eine etwa zwei- bis dreistündige Tour durchs Dorf. Die Kinder stört es wenig. Sie stürmen los zum ersten Haus. Das Prinzip ist einfach: Mit den Laternen zum Haus, Klingeln, Martinslied singen und Süßigkeiten einsammeln.
Während die Kinder mit Singen, Schlemmen und Spazieren beschäftigt sind, nutzen die Erwachsenen die Zeit zum Klönen und auch sie kommen an den meisten Häusern nicht zu kurz. Mal ein Schnaps, mal ein Glühwein – an alle ist gedacht. Doch woher stammt eigentlich diese Tradition. Alle wissen nur, dass es sie schon lange gibt. Aber wie lange eigentlich? Das genau kann niemand beantworten. Der eine oder andere ältere Dorfbewohner erinnert sich jedoch daran, dass der Ursprung einst bei Brinkers gewesen sein soll.
„Ja, das stimmt. Es war ein ganz kleines privates Ding. Und dann wurde da immer mehr draus“, erinnert sich Elsbeth Brinker. Ihr Sohn Jörg hat an St. Martin Geburtstag. „Eine Tante aus Altena brachte damals eine Laterne mit. Damit sind wir dann hier durch den Hof gezogen. Und so kam das irgendwie. Irgendwann gab es immer mehr Laternen im Dorf“, erinnert sich Elbeth Brinker. Wann genau das war? Das weiß sie nicht. Aber es muss irgendwann Anfang der 1960er-Jahre gewesen sein. Seither kennen es die Rennerder gar nicht anders. „Also ich weiß noch, dass wir ein Jahr so grüne Mäntel hatten und es in Strömen geschüttet hat. Wir haben es – so wie die Kinder heute – immer durchgezogen“, erinnert sich beispielsweise Anke Schulte. Ihre Schwester Birgit Tupat kann sich auch noch daran erinnern: „Und anschließend sind wir nach einem warmen Kakao müde ins Bett gefallen.“ Generationen von Kindern sind seither mit ihren Eltern durchs Dorf gezogen.
Der kleine Umzug befindet sich inzwischen in der Dorfmitte. Gut eineinhalb Stunden sind wir unterwegs. Und der Regen wird eher mehr als weniger. Bei Hoheisels unterm Carport ist Zeit für eine kurze Rast und ein Notfallplan muss her. Die Eltern machen Schlapp. Nass bis auf die Unterhose wird von Matschanzügen für Erwachsene geträumt und schließlich im Dorf um Hilfe gefleht. In die WhatsApp-Gruppe wird die Nachricht eingestellt, dass sich Nachbarn vielleicht zusammentun, sodass nicht mehr an jeder Tür geklingelt wird. Die meisten Rennerder haben Mitleid mit uns und bringen ihre Sachen unters Carport, andere treffen sich mit ihren Nachbarn und die Route wird kürzer. Im Carport ist es gemütlich und inzwischen herrscht dort fast ein wenig Dorffeststimmung. „Da war es ja gut, dass wir die Autos extra weggefahren haben“, freut sich Marina Hoheisel. In Rennerde denkt man eben an seine Nachbarn.
Gegen 20 Uhr – also nach drei Stunden – sind wir zuhause. Die Kinder fallen ins Bett und Mama sortiert die Süßigkeiten. 24 Kleinigkeiten aus dem großen Beutel wandern schon einmal heimlich an die Seite für den Adventskalender. Und der Rest kommt in die große Kiste – wo zugegeben noch ein paar Reste vom letzten Jahr schlummern.
Für Aktionen wie diesen besonderen Umzug, bekommt die Dorfgemeinschaft Rennerde im Rahmen der Dezember-Ratssitzung ebenfalls den Heimatpreis verliehen. Die Rennerder teilen sich den zweiten Platz mit der Pfarrei St. Matthäus.
Lesen Sie dazu:
Teil 2: Dino- und Einhornlaternen erhellen die Nacht
Thema des Tages (3): Ein großer Fest-Umzug zum Jubiläum
Teil 4: Kinder schenken Licht und Freude
Teil 6: Laternen-Marathon für das Blasorchester