Mehr als drei Stunden tagte der Rat der Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde am Montagabend. Auf der Tagesordnung standen 21 Punkte. Darunter viel Spannendes. Für Gespräche sorgte aber vor allem ein Thema: Die Anfragen von Matthias Lohmann an die Verwaltung. Der Wahlkampf hat einen ersten hitzigen Höhepunkt erreicht. LokalDirekt-Redakteurin Lydia Machelett kommentiert unten.
Da musste mancher im Saal schon schlucken. Während die einen verlegen wegschauten und am liebsten im Erdboden versunken wären, die drei Kandidaten gar nicht wussten, wie ihnen geschah und andere bejahend nickten, absolvierte Matthias Lohmann die Erklimmung des ersten Wahlkampf-Gipfels. Die Emotionen kochten hoch, als der fraktionslose Matthias Lohmann ausholte und Anfragen an die Verwaltung stellte. Sein Ziel war vor allem eines: Die Fehler der Bürgermeisterkandidaten Aykut Aggül und Christian Pohlmann aufdecken. Die Fragen an sich waren nicht verwunderlich. Viele stellten diese in den vergangenen Wochen. Auch LokalDirekt. Die doch unterschwellig aggressive Art und Weise sorgte jedoch für Diskussionsstoff - und das nicht nur unter den drei Kandidaten, denen es sichtlich unangenehm war. Während einige Bürger, die die Sitzung besucht hatten, Lohmann im Anschluss lobten, waren andere doch eher kritisch - gar schockiert. Das sei zu hart gewesen und entspreche nicht einem fairem Wahlkampf. Aber was war eigentlich passiert?
Der fraktionslose Matthias Lohmann, der ohne Fraktion keine Anträge stellen darf, hatte im Vorfeld versucht, eine Fraktion dafür zu gewinnen, eine Aussprache vor den Sommerferien zu beantragen. "Ich habe die Fraktionsvorsitzenden gebeten, einen Tagesordnungspunkt ,Aussprache vor der Wahl' zu beantragen. Dazu sahen die Fraktionsvorsitzenden keinen Anlass. So muss ich nun meine Unruhe und Befürchtungen in Nachfragen an die Verwaltung formulieren und bestehe zum ersten Mal darauf, dass mir diese Fragen gemäß §17 Absatz 4 der Geschäftsordnung auch ausschließlich von der Verwaltung, ohne Aussprache beantwortet werden", sagte Matthias Lohmann und legte los.
Zunächst ging es um die Angabe von Berufsbezeichnungen. Aykut Aggül gibt an, "Angestellter" zu sein. Auch LokalDirekt bekam bisher keine richtige Antwort. Im Gespräch bezüglich der Kandidatur sagte er: "Ich bin Mitarbeiter einer Kommunikationszentrale eines kommunalen Unternehmens." Weiter ließ er sich nicht in die Karten schauen.
Hintergrund:
Bei der Kommunalwahl 2020 kandidierte Aykut Aggül als Direktkandidat für die SPD. Er gab als Beruf Wirtschaftsinformatiker an. Das kam Susanne Fischer-Bolz, Redakteurin beim Altenaer Kreisblatt, komisch vor und sie begann zu recherchieren. Suchte unter anderem den Kontakt mit der Universität. Über Wochen blieb Aykut Aggül bei der Aussage, dass er Wirtschaftsinformatiker sei - auch als der Druck auf ihn mehr und mehr wuchs. Schließlich kam heraus, dass er keinen Abschluss hat. Angeblich habe ihm noch eine Prüfung gefehlt. Die Geschichte war inzwischen so hochgekocht, dass es für Aykut Aggül in der SPD keine Zukunft mehr gab. Er trat daraufhin als Einzelkandidat an. Und gewann trotz des Dramas das Direktmandat. Innerhalb der SPD kam es zu Zerwürfnissen. Die Partei musste sich daraufhin komplett neu aufstellen und hatte einige Mitglieder weniger.
Lohmann: "Bei der Kommunalwahl 2020 hat Herr Aggül als Berufsangabe Wirtschaftsinformatiker angegeben – Wirtschaftsinformatiker ist ein Beruf mit akademischem Abschluss. Da wir ja wissen, dass Herr Aggül sein Handeln auf Schritt und Tritt auf Facebook dokumentiert, waren wir sehr verwundert. Ein akademischer Abschluss ohne Facebook-Eintrag?" Auf Nachfrage gab Herr Aggül an, dass ihm die letzte Klausur fehle. Anfrage an die Verwaltung: Hat Herr Aggül seine Angaben, dass ihm lediglich die letzte Prüfung fehle jemals durch einen Creditpointauszug nachgewiesen, oder müssen wir nach wie vor davon ausgehen, dass Herr Aggül gelogen und geblendet und noch nicht einmal den Ansatz eines akademischen Abschlusses hat?" Heiko Tegeler von der Verwaltung erklärte, dass er dies prüfen müsse, gab aber zu bedenken, dass die Kommune nur auf Plausibilität und Vollständigkeit prüfen könne, alles andere liege in der Verantwortung der Vertrauenspersonen. Vertrauenspersonen sind das Bindeglied zwischen Verwaltung und Kandidaten.
Weiter ging's: "Es gibt in den Kandidaturunterlagen das Feld Beruf. Zu meinen Kandidaturunterlagen habe ich auszugsweise Zeugnisse über meine Abschlüsse und vor allem den Nachweis über meinen ausgeübten Beruf beigefügt. Herr Rottmann war darüber etwas verwundert. Ich habe das nicht ohne Grund getan. Was ist ein Beruf? Gelernt oder ungelernt. Mit Abschluss, oder ohne. Eine Berufsangabe beschreibt den beruflichen Bildungsabschluss oder die tatsächliche Tätigkeit und sollte für gewöhnlich durch ein Abschlusszeugnis oder im Fall des ungelernten Berufes durch einen Arbeitsvertrag nachgewiesen werden können." Auch Auszubildende / Auszubildender, Schülerin / Schüler und Studierende / Studierender dürften in dieses Feld eingetragen werden. Diese Angaben könnten durch Ausbildungsvertrag, Schulbescheinigung, oder Immatrikulationsbescheinigung untermauert werden. Auch erwerbslos beschreibe den beruflichen Status. Aber: „Angestellter ist kein Beruf. Angestellter ist lediglich eine Aussage über das Anstellungsverhältnis. Ein Angestellter kann eine Bürokraft oder ein Geschäftsführer sein. Die Angabe führt schnell zur Verklärung der Erwerbsumstände. Auch Mitarbeiter ist keine Berufsangabe. Beispiel: Mitarbeiter einer Verkehrsgesellschaft. Das kann, der Wagenpfleger sein, ein Taxifahrer, ein Busfahrer oder ein Disponent oder wieder der Geschäftsführer. Auch Beamter ist kein Beruf, sondern lediglich die Angabe eines speziellen Beschäftigungsverhältnisses", machte Lohmann das Problem deutlich. Und sagte: "Ich möchte die Verwaltung auffordern, bei allen Kandidaten, die Angestellter, Mitarbeiter, Beamter oder ähnliches als Beruf angegeben haben, dieses zu streichen, und gegen ,ohne Angabe` zu ersetzen." Bürgermeisterin Birgit Tupat erklärte, dass die Verwaltung das nicht dürfe. Übrigens: Was die Bürgermeisterkandidaten betrifft, gab lediglich Aykut Aggül keine genaue Bezeichnung an. Birgit Tupat gab an "Bürgermeisterin / Verwaltungsfachwirtin", Christian Pohlmann schrieb "Justizvollzugsbeamter". Beide sprachen bei der Kandidatenvorstellung ausführlich über ihren Werdegang. Pohlmann hat beispielsweise zuvor noch eine Ausbildung als Werkzeugmacher gemacht und auch in diesem Beruf gearbeitet.
Lohmanns nächste Anfrage schoss erneut gegen Aykut Aggül. Der klar sagt, dass es mit ihm keine Steuererhöhungen geben werde. Lohmann: "Ich scheine bislang an unserem parlamentarischen System etwas nicht verstanden zu haben. Frage an die Verwaltung: Wir wählen doch einen Bürgermeister oder eine Bürgermeisterin und keine Monarchin oder Monarchen. Stimmt das?" Heiko Tegeler bejahte diese eher rhetorische Frage natürlich. Und Lohmann machte direkt weiter: "Bislang sind Veränderungen der Hebesätze vom Rat beschlossen worden und nicht von der Bürgermeisterin. Hier werden also dem Wähler Versprechen vorgegaukelt, auf die der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin eine Stimme mit einem Gewicht von zukünftig 1/21 hat. Sehe ich das richtig?" Wieder wurde diese Frage von Heiko Tegeler mit "Ja" beantwortet. Was zur nächsten Frage führte: "Herr Aggül und Herr Pohlmann kritisieren stets und ständig die unzureichende Pflege der Gemeinde-Grün-Flächen. Herr Tegeler, sehen Sie irgendeine Möglichkeit, die Pflegeintervalle der Grünflächen zu erhöhen, ohne Hebesätze deutlich zu steigern, oder Straßenreinigungsgebühren, als verschleierte Steuererhöhung, durch den Rat beschließen zu lassen?" "Nein", antwortete Tegeler.
Nun bekam auch noch Christian Pohlmann sein Fett weg, der auf Social-Media in einem Video dafür warb, sich für eine Hundefreilauffläche einsetzen zu wollen. Lohmann: "Wir suchen mit großem denkerischem und planerischem Aufwand nach Flächen für Gewerbe- und Gemeindebetriebe. Herr Pohlmann möchte die Hundebesitzer jetzt von seiner Bürgermeisterkompetenz überzeugen, indem er ihnen einen Hundeplatz in Aussicht stellt. Frage an die Verwaltung: Sie haben doch bestimmt für solch ein Versprechen immer eine Fläche zur Reserve in der Schublade, sodass Sie dieses Wahlversprechen gleich nach der Wahl umsetzen können, oder handelt es sich hierbei um ein grundlagenfreies Wahlversprechen? Ich wüsste gerne, wo solch ein Hundeplatz angelegt werden könnte."
Im Gegensatz zu Aykut Aggül schritt Christian Pohlmann ein und entgegnete: "Es muss doch jetzt nicht sein, dass der Wahlkampf so schmutzig wird." Matthias Lohmann entgegnete, das sei kein Wahlkampf, sondern Anfragen an die Verwaltung.
Kommentar: Die Sache mit dem Vertrauen und der Aufrichtigkeit
Ja, es waren vielleicht die richtigen Fragen, die Matthias Lohmann stellte. Nämlich die Fragen, die sich viele stellen und die bislang gänzlich unbeantwortet bleiben. Über die Art und Weise lässt sich streiten. Sicherlich wäre das Ganze auch etwas weniger scharf angekommen. Bislang war der Wahlkampf überwiegend fair. Tupat setzt auf Kompetenz und Wissen, Pohlmann auf neue Ideen und Aggül auf soziale Werte und Engagement. Während sich die zwei Bürgermeisterkandidaten und die Kandidatin in Diskussionsrunden weitestgehend harmonisch, wertschätzend und fair begegnen, sieht das außerhalb ganz anders aus. Der Ton wird rauer. Ob er so rau werden musste? Wohl nicht. Auch ob dies der richtige Rahmen war, ist fraglich. Aber eines ist klar: Für Bürgermeisterkandidat Aykut Aggül ist es an der Zeit, Farbe zu bekennen. Schon einmal hat ihm eine falsche Berufsbezeichnung das Genick gebrochen - und beinahe auch der ganzen SPD Nachrodt-Wiblingwerde, der Aykut Aggül damals angehörte. Nun geht der Berufs-Streit in die nächste Runde. Wer Bürgermeister werden will, sollte mit offenen Karten spielen. Selbst wenn er keinen Abschluss haben sollte, ist das keine Schande. Steve Jobs, Richard Branson und Bill Gates sind perfekte Beispiele dafür. Man kann es auch ohne jeglichen Abschluss zu etwas bringen. Von einem Bürgermeister im kleinen Nachrodt-Wiblingwerde wird aber vor allem eines erwartet: Aufrichtigkeit. Das ganze Thema wäre nie so hochgekocht, wenn einfach ehrlich und ohne kryptische Verklausulierungen wie "Angestellter", "Mitarbeiter in einer Kommunikationszentrale einer kommunalen Einrichtung" geantwortet worden wäre. Offenheit und Ehrlichkeit wiegen mehr als ein Einser-Abschluss, eine Promotion oder Ähnliches. Denn was zählt, ist vor allem eines: Eine Person, der die Nachrodt-Wiblingwerder vertrauen, die mit Leidenschaft und Herzblut für die Gemeinde kämpft. Aber wie sollen sie jemandem vertrauen, der auf die einfachste Frage im Steckbrief (schon wieder) keine aufrichtige Antwort liefert?