Wo liegen die Ursachen für dieses Problem und wie lässt es sich beheben? Dieser Frage gingen bei einem Gesprächsabend im Sport- und Vereinszentrum der Lüdenscheider Turbo-Schnecken auf Einladung der SPD-Bundestagsabgeordneten Nezahat Baradari die Politikerin, Ansgar von der Osten, Michael Achenbach, Kinderarzt in Plettenberg und Pressesprecher des Kinderärzteverbandes, sowie die Gäste nach.
Für Michael Achenbach ist die Sache klar. Die Berechnungsgrundlage für die Versorgungsquote, nach der rechnerisch auf eine Ärztin oder einen Arzt 2800 Patienten kommen sollen, stammt aus dem Jahr 1982. Seither seien die Anforderungen an Kinderarztpraxen massiv gestiegen. So habe sich mittlerweile die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen für jedes Kind verdoppelt, ganz neu im Programm sei der U0-Beratungsbedarf für Schwangere. Die Zahl der Standard-Impfungen sei doppelt so hoch wie vor 30 Jahren. Neue Krankheitsbilder wie beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) seien hinzugekommen. Die Lage in den Praxen werde zudem durch den ständig steigenden Bürokratieaufwand verschärft. Das alles geschehe vor dem Hintergrund von Praxisschließungen aus Altersgründen und spürbarem Nachwuchsmangel.
Für den Mediziner aus Plettenberg sind die Probleme hausgemacht. 1993 nach der Vereinigung habe es noch 16 000 Medizinstudenten pro Jahrgang gegeben. Bis 2017 sei die Zahl auf 11 000 gesunken. Bis 2022 sei dann wieder ein leichter Anstieg von 800 pro Jahr zu verzeichnen gewesen. „Jährlich fehlen also rund 4000 Ärztinnen und Ärzte“, rechnete Michael Achenbach vor. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sei machtlos, da die Bundesländer diese Studienplätze schaffen müssten. Die scheuten allerdings die Ausgaben, weil ein komplettes Studium das Land 200 000 bis 300 000 Euro pro Durchlauf koste.

Michael Achenbach wünscht sich ebenso wie die Lüdenscheider SPD eine Versorgungsquote, die sich nicht wie bisher auf Kreise oder kreisfreie Städte, sondern auf einzelne Kommunen bezieht. „Dann würde der Mangel deutlich.“ Im Märkischen Kreis fehlen zurzeit Kinderarztpraxen in Nachrodt-Wiblingwerde, Halver, Balve und Herscheid. Wie schwierig es ist, Kinderärzte in den Märkischen Kreis zu holen, verdeutlichte Ansgar von der Osten. „In Werdohl hat es vier Jahre gedauert, bis sich wieder ein Kinderarzt angesiedelt hat.“ Die Zahl der Sitze, die die Kassenärztliche Vereinigung zu vergeben habe, sei konstant. „Aber die Mediziner kommen nicht.“
„Wir müssen uns als Region fragen: Wie machen wir uns attraktiv?“ erklärte Michael Achenbach. Offenbar gibt es kaum überwindbare Hürden. So berichtete der Plettenberger Kinderarzt, dass er mit zwei Kollegen in Verhandlungen gestanden habe. Mit der Brückensperrung seien sie dann abgesprungen. Dennoch entspannt sich die Lage in Plettenberg ein wenig. Wie von Nezahat Baaradari angekündigt, erhält Einzelkämpfer Michael Achenbach ab 1. April Unterstützung. Dann tritt im Hausarztzentrum (HAZ) Dr. Carolin Rötscher als Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde ihren Dienst in Plettenberg an.
Nezahat Baradari stellte fest, dass sich die Probleme mit dem Ausscheiden der Baby-Boomer-Generation unter den Kinderärzten noch potenzieren werden. Die Politikerin ist selbst Kinderärztin. Sie erinnerte sich auch an ihre Probleme in den Jahren der Flüchtlingswelle 2015/16 – kinderreiche Familien, Verständigungsprobleme bei der Behandlung. Das alles wiederhole sich jetzt mit Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine.
Aus dem Publikum kam unter anderem Kritik am Zulassungsverfahren für Ärzte aus dem Ausland. Die Kassenärztliche Vereinigung sei da zu zögerlich. Das wollte Ansgar von der Osten so nicht stehen lassen. Die Zulassung laufe über die Bezirksregierung. Da hake es, weil Zeugnisse und Zertifikate oft in fremden Sprachen ausgestellt seien. Anschließend müsse die KVWL die Facharzterlaubnis anerkennen und feststellen, ob ausreichend Kompetenz vorhanden sei. „Auch diese Prüfung ist schwierig.“
Schnell ist der Mangel an Kinderärztinnen und -ärzten nicht zu beseitigen. Darauf müssen sich Eltern einstellen. „Wenn wir heute entscheiden würden, alles anders und besser zu machen, würde das in frühestens elf Jahren wirken“, erklärte Michael Achenbach. So lange dauere nämlich die Ausbildung zum Facharzt.