„Heute fahren wir nach Spanien." Manchmal ist es ein Satz, der hängen bleibt. Ein Gedanke, aus dem Ideen entstehen. Für Geschichten, die man aufschreiben und teilen müsste. Die Geschichte, die nun folgt, entstand aus Anekdoten, die erzählt wurden. Alltägliche Erlebnisse aus dem Berufsleben eines Freundes, der in der Altenpflege arbeitet. Zu Weihnachten dürfen sie erzählt werden.

Überregionale Nachrichten

Alltägliche Begebenheiten: Zu berührend, um sie zu vergessen. Zu witzig, um sie für sich zu behalten. Zu relevant, um das Thema nicht einmal aus dieser Perspektive zu erzählen. Um die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten zu schützen und diese Geschichte dennoch festhalten zu können, wählen wir folgende Form: Der Fahrer bleibt Erzähler der eins zu eins von ihm erlebten Anekdoten. Die Geschichte spielt irgendwo im Märkischen Kreis, also im LokalDirekt-Sektor. Der Reporter hörte zu und fügte die Geschichten aus dem Kleinbus der Altenpflege zu einem Mosaik zusammen. Denn für Themen wie dieses und Geschichten aus dem Leben - genau dafür ist die Weihnachtszeit gemacht.

Da hatte er wohl recht, der Herr Fuchsberger, genannt "Blacky".
Foto: Gütersloher Verlagshaus

Jeder möchte alt werden, aber alt sein will niemand. Denn das Altwerden ist „nichts für Feiglinge“, hat uns der 2014 verstorbene Schauspieler, Entertainer, Showmaster und Stadionsprecher der Olympischen Spiele von München 1972, Joachim „Blacky“ Fuchsberger, gelehrt. Und wer ist schon zugegebenermaßen feige? Sein Buch, ein halbes Jahr vor seinem Tod erschienen, trägt jedenfalls diesen Titel: „Altwerden ist nichts für Feiglinge". Aha!

Und ja: Manchmal ist es so ulkig wie herrlich, so unerwartet wie unglaublich, was das Alter mit sich bringt. Damit mich alle richtig verstehen: Was nun folgt, ist eine kleine Liebeserklärung an in Ehren ergraute Mitbürger, die ihr Leben lang ihre Pflicht — und oft weit mehr - getan haben. Es liegt mir fern, einen billigen Spaß auf Kosten unserer alten Herrschaften zu machen.

Der größte und gleichzeitig kostengünstigste Pflegedienst für unsere alten Menschen ist die Familie. Mit großer Selbstverständlichkeit, Duldsamkeit und einer gehörigen Portion Aufopferung pflegen Angehörige (oder sagen wir es klar: meistens sind es die Frauen) die Eltern, Schwiegereltern, Geschwister und Verwandte. Es ist ein Knochenjob, zumal dann, wenn die zu Pflegenden hochbetagt sind. Dann sind die, die pflegen, bereits in einem Alter, dass eine „6“ oder gar „7“ vorne steht. Das ist eine körperliche und seelische Herausforderung,

Die Angehörigen ins Heim zu geben, fällt schwer. Zum Glück gibts Zwischenlösungen.

Die alten Herrschaften in ein Seniorenzentrum in professionelle Hände zu geben, ist ein für alle Beteiligten schwerer Schritt. „Da gehöre ich noch nicht hin; da sind doch nur alte Leute“ ist nur ein Argument dagegen. Zum Glück gibt es Zwischenlösungen, zum Beispiel eine Kurzzeitpflege, wenn die pflegenden Angehörigen für einen überschaubaren Zeitraum eine Vertretung oder eine Auszeit benötigen.

Es gibt auch die Tagespflege: Die Senioren bleiben zuhause wohnen und sind für eine frei zu bestimmende Zahl an Tagen pro Woche in einer professionellen Betreuung, wo sie versorgt, mobilisiert, angeregt und angesprochen werden. Morgens werden sie mit einem Kleinbus zuhause abgeholt, am Nachmittag wieder nach Hause zurückgefahren. Unser Kleinbus hat den Charakter eines Anruf-Linienbusses: Er fährt seine Linie, aber er fährt seine Haltestellen nur bei Bedarf an. Sind Herr oder Frau XY nur am Mittwoch bei der Tagespflege angemeldet, steuert der Kleinbus dieses Haus entsprechend an. Am Steuer sitze - ich. Wenn Ihr das Leben in all’ seinen Facetten kennenlernen wollt: Steigt ein in die Geschichte, ich nehme Euch mit im Kleinbus.

Der 96jährige Urgroßvater ist in der Tagespflege der Hahn im Korb

An einem respektablen Mehrfamilienhaus, seit mehreren Generationen im Familienbesitz, wird der 96-jährige Urgroßvater abgeholt. Ihn verabschiedet jeden Morgen der treue Hund, der auch am späten Nachmittag der Erste ist, der den zurückkehrenden Senior begrüßt. Sohn oder Schwiegertochter, beide noch unternehmerisch tätig, sind dann auch jeweils da, nachmittags oft auch die Urenkelin, der Sonnenschein des alten Herren. „Wir sind so froh, dass es die Tagespflege für Vater gibt”, höre ich. „Endlich kann ich mal Atem schöpfen, um wieder was erledigt zu bekommen. Ich war doch immer auf dem Sprung, wenn Vater wieder gefallen war.”

Vater, geistig absolut auf Zack, wird mit dem Rollstuhl ın den Bus geschoben und er kommentiert das Hineingeschobenwerden mit einem fröhlichen „Dudupp, dudupp“. Jeden Tag ist das so - und stets achtet er sorgsam darauf, dass sein Hütchen korrekt sitzt, denn „Vater“ macht mit seinen 96 Jahren noch auf bella figura. Das sınd jene Sıgnale, die die Damenwelt in der Tagespflege durchaus empfängt. Und Vater ist, er weiß das genau, mit seinen fast 100 Lenzen einer der Hähne im Korb. Auf einen Herrn kommen vier Damen. Oder fünf, je nach Wochentag.

Ein anderer Hahn im Korb ist ein früherer hochrangiger Berufsfeuerwehrmann, der Jahrzehnte in einer Großstadt die Bürger beschützt, ihnen in der Not geholfen, ihren Besitz verteidigt hat. Er hat Schlimmstes gesehen und ist erschreckend schnell dement geworden. Neues Wissen kann er seinem Gehirn nicht mehr beiordnen, vergisst es sofort wieder. Altes aber bleibt und kann wie auf Knopfdruck abgerufen werden. Sein Basiswissen als Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr verlöscht nicht. Die „Einsatzstelle Tagespflege“ erkundet unser Feuerwehrkamerad am Tag wohl 20 Mal, tritt vor die Tür, schaut nach dem Rechten, kehrt dann zurück. Fliegt ein Rettungshubschrauber das nahegelegene Krankenhaus an, inspiziert er die Lage.

Der Alterskamerad aus der Feuerwehr hat viel vergessen - die Kommandos aber nicht

Mit den Mädels in der Tagespflege aber hat er, der seit Jahrzehnten verheiratet ist und Kinder hat, keinen rechten Vertrag. Er ist in der „TP“ bei den Männern, denn Feuerwehr ist in den meisten Fällen und auf den meisten Wachen mehrheitlich eine Männergesellschaft. Immer noch!

Doch zurück zum Grundwissen Feuerwehr! Wir fahren mit dem Kleinbus nach Hause, ich links, mein Alterskamerad rechts. Ich der Maschinist, er der Gruppenführer. Wir rücken aus der „Alarmausfahrt“ unserer Tagespflege aus. Mein Blick geht nach rechts, ich frage nach: „Mit Sonderrechten?“ Heißt: Fahren wir mit Blaulicht und Martinhorn (der Kleinbus hat natürlich weder das eine noch das andere). Wie aus der Pistole geschossen kommt von rechts die Ansage „meines“ Gruppenführers, so scharf wie präzise: „Ohne Sonder- und Wegerechte“. Ich belle ein „Verstanden“ zurück. Unsere Einsatzfahrt beginnt und ich bringe meinen Alterskameraden, den ich seit vielen, vielen Jahren kenne, heim.

An dieser Stelle kann ich es bekennen - Ja, es berührt mich. Ich könnte auch sagen, dass es mich anfasst, dieses Erlebnis mit unseren alt gewordenen Mitbürgern, von denen ich die meisten aus ihrem früheren Leben auch kenne. Die Wirtin eines der besten Hotel-Restaurants oder die Chefin eines bedeutenden Cafes. Beide haben im Leben nur gearbeitet, 7/24/365 war ihre Chiffre. Bei beiden kann das Fahrgestell fast nichts mehr, aber der Bordrechner, der Geist ist wach, ihr Urteil das der Unternehmerfrauen. Wenn wir unterwegs sind, deklinieren wir Rezepte für Fleischgerichte und Suppen im einen, für Kuchen und feines Gebäck im anderen Fall. Mit der Wirtin fahre ich auch schon einmal einen Umweg: Sie hat manchen Ortsteil noch nie gesehen, geschweige denn mal Urlaub gehabt. So fahren wir ab und an ein wenig Sightseeing ....

Der gewesene Bankier schaut aus großen, traurigen Augen - bis die "Pflicht" ruft

Mein anderer Kunde war Bankier der gehobenen Sorte, hatte Personalverantwortung. Körper und Geist sind bei ihm angeschlagen und an manchen Tagen fragt er sich, übriggeblieben in seiner Generation, nach dem Sinn. Zu seiner Wohnung haben wir einen Schlüssel und so trete ich selbstständig in seine Räume ein, wenn er beim Klingeln nicht öffnet. Ja, manchmal will er nicht. „Was soll das (noch)“, ist dann seine Frage aus großen, traurigen Augen. Ich stelle in diesem Moment auf meinem Handy WDR 5, das aktuelle Wortradio, ein. Hintergrundgerede ist wichtig, Leben also. „Wir müssen zum Dienst. Die Damen in der Bank warten auf Sie.“

Das ist mehr als ein „bitte“, mehr als ein Auftrag, mehr als eine Ansage. Das ist ein Appell an die Ehre. Der große Mann, immer noch eine stattliche Erscheinung mit grauem, vollen Haar, reckt sich auf, macht sich gerade, zupft und kämmt seinen Schopf. Die Damen lässt man, lässt er nicht warten. Man, natürlich er, ist Vorbild. Und ja: Es wird für ihn sodann ein erfüllender Tag in der Tagespflege.

Symbolbild zur Seniorenpflege.
Foto: DRK

Dem Bankier setze ich im Kleinbus einen leider sehr verwirrten Senior dazu. „Wo fahren wir denn hin“, fragt der neu Hinzugestiegene den Finanzprofi. Der weiß es in diesem Moment auch nicht so recht, aber als Bankier darf man um eine Antwort nie verlegen sein. „Ich glaube, wir fahren nach Spanien“, fällt die Antwort etwas verhalten aus. Die iberische Halbinsel wäre tatsächlich sehr weit und bis dorthin würde der Sprit auch niemals reichen, überlege ich und habe fast ein „Heute fährt die 18 bis nach Istanbul“ auf der Zunge, doch ich verkneife mir das Malle-Stimmungslied. Es wäre zu ungebührlich!

Wenn in der Adventszeit der ganze Bus zu singen beginnt

Doch mit der Musik hab’ ich es tatsächlich und meinen Gästen geht’s nicht anders. Unvergessen der letzte 23. Dezember. Unser Bus ist bis auf den letzten Platz besetzt. WDR 4 im Radio, Weihnachtsmusik. Dann kommt im Programm „das“ Weihnachtslied schlechthin. Bing Crosby, Aufnahme von 1942, schmachtet „White Christmas“, Ich drehe den Regler auf. Urplötzlich singen alle meine Fahrgäste, textsicher der ganze Bus, ich singe automatisch mit: „May your days be merry and bright, and may all your Christmas’ be white“. Gestattet mir soviel Sentimentalität: Es hat mich zu Tränen gerührt.

Ja, Altwerden ist echt nichts für Feiglinge. Mein Kleinbus ist da so etwas wie ein Vergrößerungsglas, wie eine Zeitkapsel im Heute und Gestern. Es ist gut, dass es die Tagespflege gibt. Ihre Aufgabe in einem Wort: Es geht um die Würde im Alter. We’Il do our very best - an jedem neuen Tag.