„Mein Name ist Valentina Rodzaevska, ich komme aus der Hauptstadt der Ukraine, Kiew. Und ich bin mit meiner Familie hier her gekommen.“ Noch kein Jahr ist die junge Mutter in Nachrodt und spricht bereits recht gut Deutsch und versteht auch schon viel. Die Nacht zum 24. Februar wird sie nie vergessen. „Ich wachte wie alle Ukrainer von Raketengeräuschen auf“, erzählt Rodzaevska. In dieser Nacht war sie jedoch nicht zuhause, sondern bei ihren Schwiegereltern in der Region Tscheka. Sie feierten dort einen Geburtstag. Ihr Mann war daheim geblieben, denn gerade hatte die Familie eine Metzgerei in Irpin eröffnet, es gab also viel Arbeit. Irpin liegt genau zwischen Kiew und Butscha, das durch das Massaker bekannt wurde.
„Mein Mann konnte an diesem Tag nicht direkt abreisen. Es gab riesige Staus. Die Stadt war praktisch gesperrt“, erzählt die Ukrainerin. Am nächsten Tag sei er direkt nach Irpin gefahren, um die Ladenbesitzer zu evakuieren. Das war der Tag, als die Russen den Flughafen von Gostomel, einem Vorort von Irpin, bombardierten. Die Panzer standen bereits in den Vororten. „Es gab schreckliche Explosionen. Ich war ständig in Kontakt mit ihm und bat ihn, so schnell wie möglich zu gehen“, erinnert sich die Ukrainerin.
Ihr Mann habe noch andere Menschen mitgenommen und am 25. Februar befand sich die Familie dann an einem sichereren Ort im Landesinneren. „Aber die Raketen bombardierten weiterhin das gesamte Territorium der Ukraine. Kein Ort schien sicher. Mein Mann Hryhoriy trat am 26. Februar in die Armee ein“, berichtet Rodzaevska. Währenddessen liefen die Luftangriffe.
Rodzaevska habe sich mit ihrem Vater und den Kindern in Kellern versteckt. „Und als das Tag für Tag so weiter ging, entschied ich, dass ich diese Art von Kindheit für meine Kinder nicht wollte“, sagt Rodzaevska.
Über Polen nach Nachrodt geflohen
Zunächst ging es nach Polen. Dort hatte Rodzaevskas Schwester Anna eine Freundin. „Sie war die erste, die uns Schutz gewährte“, erzählt die Urkrainerin. Auf Dauer konnten sie dort jedoch nicht bleiben. Denn insgesamt waren sie drei Erwachsene und vier Kinder. Sie machten sich auf die Suche nach einer Wohnung in Kattowitz. „Wir hatten nie vor nach Deutschland zu gehen, weil Polen doch deutlich näher an unserer Heimat war“, sagt Rodzaevska. Letztlich sei aber keine Wohnung zu finden gewesen und ihre Freundin habe dann eine Anzeige auf Facebook gefunden, dass es in Nachrodt eine Wohnung für eine große Familie gibt. Die zweite Schwester ging ebenfalls an dem Tag, allerdings nach Estland, dort hatte sie eine Wohnung gefunden. Ihre Schwester Anna, die vier Kinder und der Vater von Valentina starteten die Reise nach Nachrodt. „Wir gingen alle dem Unbekannten entgegen, wir kannten hier wirklich niemanden“, erinnert sich Rodzaevska.
Nach ihrer Ankunft in Nachrodt habe sie einige Zeit gebraucht. Sie war gestresst und voller Sorge um ihren Mann und ihr Zuhause. „Die Ereignisse hielten mich wach. Es gab keine Lust, irgendetwas zu tun. Es schien, als wäre alles ein Traum“, sagt Rodzaevska. Aus dem Tief sei sie nur durch die Hilfe der Nachrodt-Wiblingwerder gekommen. „Diese Menschen haben uns geholfen, uns in der Gesellschaft zurechtzufinden“, erzählt die junge Mutter. Unter anderem habe man ihr den Kontakt zu einer Marketingagentur im Ort vermittelt: „Die Arbeit tut mir sehr gut. Ich bin dort toll aufgenommen worden, dort kann ich mich persönlich weiterentwickeln.“ Das sei genau die Unterstützung, die sie gebraucht habe. Die Kinder gingen rasch zur Schule und in den Kindergarten. Die vergangenen Monate seien wie im Flug vergangen – und jetzt sei plötzlich Weihnachten.
„In diesem Jahr feiert die Ukraine am 25. Dezember gemeinsam mit der ganzen Welt Weihnachten. Zuvor feierten wir alle am 6. Januar.“ Ein gemeinsames Weihnachtsfest mit den Russen sei undenkbar. Normalerweise sei die ganze Familie zum Abendmahl gegangen. Außerdem seien zu Weihnachten traditionell zwölf Fastengerichte zubereitet worden. Die Kinder ziehen außerdem von Haus zu Haus und singen Weihnachtslieder. Rodzaevska: „Unser Weihnachten war jedes Jahr genau so. Mit all den Traditionen. Dieses Jahr feiern wir hier, mit neuen Freunden, die uns mit ihrer Fürsorge umgeben.“
Doch so richtig abschalten kann die Ukrainerin nicht. Mehr denn je vermisst sie an solchen Tagen ihren Mann. „Während dieser ganzen Zeit haben wir uns nur drei Tage gesehen. Da bekam er Urlaub. Ich bin stolz auf ihn und mache mir ständig Sorgen“, erzählt Rodzaevska. Auch vermisse sie ihre Freunde und ihre Heimat. Viele Freunde seien geflohen. In die unterschiedlichsten Länder Europas. Einige seien bereits in die Ukraine zurückgekehrt, andere hätten das Land nie verlassen. „Zuhause warten sie auf den Sieg. Trotz des ständigen russischen Terrors, des Mangels an Wärme und Licht verlieren die Menschen nicht den Mut, setzen ihr gewohntes Leben fort. Arbeiten, lehren und lernen und melden sich freiwillig. Ich bin stolz auf mein Volk.“
Sie seien alle vereint in dem gleichen Wunsch: Dass die Ukraine in diesem schrecklichen und ungerechtfertigten Krieg als Sieger hervorgehe. Rodzaevska: „Wir wollen, dass unsere Familien wieder vereint werden.“