Zu einer, zu zwei, gar zu drei Literaturstunden der besonderen Art kam es in Schürmanns Landgasthof in Grünenthal. Martin Michaelis und Michael Martin alias „die zwei Martins“ waren zum fünften Mal bei einer „kulinarischen Lesung“ zu Gast. Am Freitag, 14. November, ging es zurück auf eine Gedankenreise, wurden westfälische Gemüter vorgestellt und witzige Geschichten aus dem Märkischen erzählt – wahre wie fiktive.
Überregionales
Aus einer Zeit, in der "Landgasthöfe" noch völlig normal waren
Zwischen Plettenberg und Lüdenscheid gab es noch vor zwei, drei Jahrzehnten eine ganze engmaschige Kette von rustikalen Gaststätten und derben Kneipen. Ohne Garantie auf Vollständigkeit konnte man zwischen Holthausen und der Autobahnauffahrt Lüdenscheid-Süd 16mal einkehren und rechnet man den einstigen Kiosk am Versedamm dazu, käme man auf 17 „Mautstellen“.
Von dieser gewesenen Herrlichkeit ist aus den unterschiedlichsten Gründen wenig geblieben und wenn man den Blick nur auf die durchgehende Landstraße 561 richtet, dann gibt es als „letzte Raststelle vor der Autobahn“ noch genau ein typisches Lokal – das von Wirt Peter in Grünenthal, früher „Klemme“, heute „Schürmanns Landgasthof“. Seit 1874 in Familienbesitz, an den massiven Wänden dezent dekoriert mit Bildern aus der Familiengeschichte, ist das Haus heute Treff für Vereine wie Poalbürger.
Und die sind es am Freitag auch, die Poalbürger also, die sich zur kulinarischen Lesung einfinden. Während vorne im Schankraum an vier Tischen Skat gespielt wird, sind im ausgebuchten Gastraum die „Literaturfreunde“ zu finden, die dann von Wirt Peter Schürmann persönlich begrüßt werden – die meisten mit Namen, denn man kennt sich. Rustikal, ländlich-sittlich geht es zu, in beiden Räumen. Die Skatspieler haben sich den Kinderstuhl in der Schankstube herangezogen und nutzen ihn als eine Art Beistelltisch – man darf das, ist ja ein Landgasthof. Im Restaurant wird der erste „Gang“ herangetragen; ein Schmalzbütterken. Bütterken, nicht Schnittchen, soviel Wahrheit muss sein!
Nach dem Schmalzbütterken kommt geistige Erbauung
Derart gestärkt beginnen die beiden Martins ihre Lesung. Michael Martin hat sich vorgenommen, die Sauerlandlinie in den Mittelpunkt zu rücken – was auch bestens passt, denn wir hatten ja bereits festgestellt, dass Peter Schürmanns Lokal der auf geradem Wege einzige und auch doppeldeutig letzte Gasthof vor der Autobahn ist. Michael Martin, gebürtiger Werdohler, 20 Jahre Wahl-Engländer und nach Neuenrade heimgekehrt, schreibt seit 15 Jahren sehr intim über unseren Sprengel und dessen Menschen, die Ur-Sauerländer und ihren knorrigen Wortschatz. Im Komplett-Magazin hatte er sich über die gesperrte Brücke der A 45 ausgelassen und nun lässt er sein Publikum an eben dieser humorvollen Schmähkritik teilhaben.
Denn jetzt geht es um „die Sperrung mit der Maus“ – Martin hat ein fiktives Interview mit der Haselmaus niedergeschrieben. Sie wissen schon – das ist die Maus, deren verlassenes Nest man unter der alten Rahmedetalbrücke fand und deswegen die Sprengung der Brücke über Monate verschob. „Affäre“ nennt Martin das und erklärt das Brückendrama auf so unerwartete wie nett-versöhnliche Weise. Michael Martin liest den Interviewer, Martin Michaelis die Maus. Es sind zwei Vorleser, es sind zwei Stimmen, die harmonieren.
Haselmaus hin, Haselmaus her – bekannterweise wurde die Brücke dann doch noch gesprengt. Es ist eine Brücke von vielen, vielen Überführungen im Sauerland, die marode sind. Bahnhofsbrücke Altena – „in den Wicken“. Lennebrücke Werdohl – eine Notbrücke ermöglicht die Flussüberquerung, wie demnächst auch in Kierspe. Hönnebrücke in Sanssouci – ebenfalls hin. Bahnbrücken bei Altenhundem und Berleburg: Wracks. Und so weiter und so weit: Die beiden Martins wagen eine Projektion, wie es demnächst im Sauerland sein könnte, wenn alle Brücken „oppe“ sind: Dann müssen Fähren, Seilbahnen und Luftbrücken das Land der 1000 Berge retten. Außerdem: „Beam me up, Scotty“. Tolle Zustände…. Wie gut, dass das hier Fiktion ist, ein „literarisches Appetithäppchen vor der Rinderkraftbrühe“, wie Michael Martin das nennt. Und tatsächlich: Peter Schürmann trägt wie auf Knopfdruck das Süppchen auf – eine unverfälschte Rinderkraftbrühe wie anno tuck. Der Zwischengang ist in doppelter Mission unterwegs: als Stärkung und als Hinwendung auf die 60er und 70er Jahre.
Damals, als die Sauerlandlinie die Region aus der Abgeschiedenheit holte
Die Rinderkraftbrühe ist veratmet, da geht es mit den beiden Martins auf die Reise in die Vergangenheit und auch diesmal steht die Sauerlandlinie, die A 45, im Mittelpunkt. Am 26. Oktober 1971 wurde die Königin der Autobahnen in Gänze freigegeben und genau in diese Zeit zielte die Michaelis-Geschichte vom ersten Geisterfahrer auf der Bahn. Diese hier wiederzugeben wäre sinnlos, aber die Stichworte nennen wir - sie bestätigen sämtliche kursierenden sentimentalen Verschwörungstheorien, wonach einerseits früher alles besser war und andererseits die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Da gab es Anwandlungen an die 1967 erstmals ausgestrahle Schwarz-Weiß-Sendung „Schlager für Schlappohren“ mit dem Hasen Cäsar und seinem Toningenieur Arno Görke, an die WDR 1-Hörfunksendung namens „Sport und Musik“, da werden Overstolz-Zigaretten gequarzt. Roy Black und Anita trällern (1971 erschienen) „Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein“ – was den kompletten Saal im Grünenthal textsicher mitschmettern lässt. Und weiter geht’s auf der A 45 mit dem 1972 erschienenen Ford Granada sowie mit Fernseh-Anleihen bei Rudi Carrell aus dem Samstagabend-TV-Programm und Oberkellner Reno Nonsens aus dem unvermeidlichen „Blauen Bock“ mit Heinz Schenk und Lia Wöhr vom Hessischen Rundfunk.
Tatsächlich, früher war alles besser? Nun ja, auf jeden Fall war das Essen weniger vegan. An diesem Abend ist es nicht anders: Peter Schürmann trägt Gulasch mit Klößen zum Sattwerden auf. „Von glücklichen Herscheider Kühen“, lässt er uns wissen und freut sich später über fast durchweg leergegessene Teller. Wobei: Es hätte sogar Nachschlag gegeben, aber sehr üppig war’s bis dahin bereits – Landgasthof eben. Und das Dessert – Pudding Schoko-Vanille mit Kirschen - muss man ja auch noch schaffen. Von wegen nur „Sauerländer Häppchen“ ….
Wir Sauerländer sprechen doch das Hochdeutsch der allerfeinsten Art!
So arbeiten sich Gäste, Vortragende und Wirt durch den Abend, der dann doch noch in die (Fast-) Jetztzeit springt. Lach- und Sachgeschichten aus Werdohls Kultkneipe „Alt-Werdohl“ mit Szenewirt Pöngse – Michael Martin schwört Stein und Bein, dass sich die Dönekes wirklich so ereignet haben – heben abermals die ausgelassene Stimmung.
Schließlich geht es abschließend noch für eine Tour de Plaisir einmal kreuz und quer durch den Sauerländer Duden bei der „Fragen Sie Dr. Nürsel"-Runde. Da können „plästern“, „össelig“, „usselig“ „muckelig“, „Soffa“ mit dem unvermeidlichen Doppel-f ebenso geklärt werden wie das „woll“, das die Lingua Sauerlandia vornehm zur indigenen Sprache erhebt.
Was also nehmen wir von diesem Abend mit? Dass ein Landgasthof erst dann ein solcher ist, wenn es nicht ein Ütütü auf Eiteitei mit Trallala an Schaum vom Holunderrübchen gibt, sondern etwas Handfestes. Dass Herscheider Kühe auch als Gulasch ein Glücksfall sind. Dass früher nicht alles besser, aber auf jeden Fall anders war. Dass Sauerländisch die schönste Hochsprache der Welt ist und die beiden Martins das perfekt vermitteln können. Und ja: Dass es Spaß macht, diese ganzen Weisheiten nicht nur als literarisches Appetithäppchen serviert zu bekommen, sondern sie vorgetragen wie zur Kraftbrühe konzentriert zu erleben. Woll?









