Stellen Sie sich vor, Sie könnten mit einem Computerprogramm sprechen und es würde Ihnen antworten, als ob es ein echter Mensch wäre – genau das ist ChatGPT. Es ist ein „Superhirn“ auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und der Verarbeitung von Sprache. Es wurde von OpenAI entwickelt und ist darauf trainiert, Fragen zu beantworten und sogar eigene Texte zu erstellen. Das klingt vielleicht wie Science-Fiction, aber es ist bereits Realität.
Dass die erstellten Texte aufgrund der menschlichen Sprache gar nicht von einer realen Person geschrieben wurden, fällt kaum auf. Oder hätten Sie erkannt, dass der gesamte erste Textabschnitt dieses Artikels durch ChatGPT verfasst wurde? Der Forderung, sich in kurzen Sätzen selber zu beschreiben, kommt der Chat-Bot innerhalb weniger Sekunden nach.
Seit der Veröffentlichung im November 2022 verbreitet sich die digitale Innovation rasend schnell. Immer mehr Menschen nutzen den Bot. Auch vor Schulen und Universitäten macht der Trend keinen Halt – wie in Zukunft mit der neuen Technologie umgangen werden soll, wird aktuell hitzig debattiert.
ChatGPT: ein neues „Phänomen“ für Lehrer
Keine Lust auf lästige Hausaufgaben? ChatGPT kümmert sich darum. Der Bot hat nämlich einiges drauf: Er kann Aufsätze wie etwa Gedicht- und Szenenanalysen, Computerprogramme und vieles mehr schreiben sowie Matheaufgaben selbstständig lösen und Hypothesen aufstellen. Nicht immer, aber meistens korrekt.
ChatGPT revolutioniert den klassischen Schulunterricht – da ist sich Paul Meurer, Schulleiter des Anne-Frank-Gymnasiums, wenige Tage nach der Veröffentlichung des Sprachmodells sicher. Anfang Dezember wurde er zum ersten mal mit dem Thema – nach Meurers Worten – „konfrontiert“ und führte seitdem zahlreiche Selbstversuche aus: „Ich habe nach einer Shakespeare-Analyse gefragt, diese von Deutsch auf Englisch übersetzten lassen und es einem Englisch-Lehrer gezeigt. Es war top. Das fand ich spannend.“
„Natürlich haben wir uns gefragt, was das für unseren Berufsalltag bedeutet“, erklärt Meurer im Gespräch mit LokalDirekt. Demnach war es für den Schulleiter wichtig, die Lehrerschaft frühzeitig über die Entstehung, Algorithmen und die Verwendungsmöglichkeiten von KI aufzuklären. Bereits im Februar nahmen die Lehrer bei einer Fortbildung teil, da „eine große Anzahl des Kollegiums ChatGPT noch gar nicht kannte“.
Die letzte Fortbildung werde es daher nicht sein – kommende Info-Veranstaltungen seien bereits in Planung. In der Sommerkonferenz werden sich die Lehrer noch einmal zusammensetzen, ihre Ergebnisse und Erfahrungen mit dem Umgang von ChatGPT im Unterricht zusammenfassen und daraus für das kommende Schuljahr entsprechende Konsequenzen ziehen.
Aufklärung statt Verbot
Obwohl ChatGPT noch eine stetig wachsende und junge Erfindung ist, ist Schulleiter Paul Meurer davon überzeugt, dass der Chatbot in Zukunft eine wichtige Rolle im Schulalltag spielen wird. ChatGPT zu ignorieren oder sogar zu verbieten empfindet er daher als den falschen Umgang. „Wir Lehrer haben uns darauf verständigt, dass wir die Schüler ganz klar über KI aufklären. Sie werden es ohnehin nutzen. Ob sie ehrlich zu uns sind, können wir natürlich nicht immer herausfinden“, erklärt Meurer.
Ein Verbot von ChatGPT – so wie es bereits in Italien der Fall ist – könne gar nicht umgesetzt werden. „Ein Verbot würde die Chancen von KI wegnehmen“, entgegnet Meurer. Daher sei ein vorsichtiges, kritisches und konstruktives Antasten an diese neue Technologie die Grundlage für ein erfolgreiches Gelingen am Anne-Frank-Gymnasium. So sollen von KI geschriebene Texte auf Falschaussagen analysiert und Quellen überprüft werden. „Durch solche Sprachmodelle wird es keine Ablösung, sondern einen Zusatz geben. Wie wir es einsetzen, wird die Frage sein“, betont der Schulleiter.
ChatGPT als „Study Buddy“
Meurer wagte den ersten Schritt in seinem Religionsunterricht. Dort erstellten die Schüler mithilfe von ChatGPT einen emotionalen und kreativen Brief aus der Sicht von Pater Maximilian Kolbe vor seinem Eintritt in ein Konzentrationslager. Vom Ergebnis waren seine Schüler begeistert – doch dass der Bot auch auf seine Grenzen stoßen kann, lernten sie noch in der gleichen Unterrichtsstunde: „Zum Thema der Auferstehung hatte der Bot einen ganz allgemeinen Text, den man auch von Wikipedia hätte kopieren können, reingepackt. Daran sieht man, dass der Bot an einigen Stellen noch Probleme hat“, so Meurer.
ChatGPT habe viel Potenzial, ganz ohne Risiken sei das neue Phänomen aber nicht, erklärt der Schulleiter: „Der Schüler präsentiert seine Hausaufgaben super, hat aber im Grunde genommen nichts verstanden. Darin sehe ich die größte Gefahr. Zudem habe ich Sorge, dass die soziale Schere immer weiter auseinander geht. Ich glaube, dass die Grundform Lesen, Schreiben, Rechnen und mit digitalen Medien umgehen zu können, viel stärker präsent sein muss. Wer das in der Grundschule nicht vernünftig tun kann, für den wird KI immer ein Verlierer sein.“ Das Sprachmodell sollte daher eher als „Study Buddy“, also als „Lernkumpel“, verstanden werden, mit dem man gemeinsam lerne und sich Wissen aneigne.
Stimmungsbild im Klassenraum
Ein Einblick in den Religionsunterricht des neunten Schuljahrgangs: Auf die Frage, ob die Schüler schon einmal mit ChatGPT oder einem anderen ähnlichen Sprachmodell gearbeitet haben, schossen alle Arme nach oben. Der Bot ist hier schon lange nichts Unbekanntes mehr. Ein Schüler gibt im Gespräch mit LokalDirekt offen zu, dass sich der Bot auch schon für eine Deutschanalyse nützlich gemacht hat – „zum testen“, sagt er augenzwinkernd.
ChatGPT bietet den Schülern viele Möglichkeiten, das ist ihnen längst klar. Aber der Vorwurf, dass dieses künstlich intelligente Sprachmodell nur zum Betrügen und Abschreiben verwendet wird, trifft laut einer Schülerin nicht zu: „Manchmal nutze ich ChatGPT zur Inspiration. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann schau ich, wie es der Bot lösen würde“. Die neue Technologie könne auch dazu beitragen, dass einige Schüler entlastet werden. Wenn zu viele Hausaufgaben zu einer Überforderung führen, kann ChatGPT gelegentlich zur Hilfe genommen werden – ein „Study Buddy“ eben.
Doch bei einem Kritikpunkt sind sich die meisten im Klassenraum einig: Der Chatbot könnte eine potenzielle Gefahr für die jüngeren Schüler werden. „Fünft- und Sechstklässler sollten sich nicht vollkommen auf ChatGPT verlassen, sondern erstmal eigenständig Aufgaben lösen“, stellt eine weitere Schülerin klar.
Schulleiter ergreift frühzeitige Maßnahmen
Der Chatbot sollte nicht unkontrolliert auf die Schüler losgelassen werden, ohne zuvor angemessene Maßnahmen zu treffen, stellt der Schulleiter klar: „Wir haben jetzt schon ein Problem damit, dass die Mehrheit der Schüler ihre Tablets nutzen. Wir werden Hefte wieder einführen müssen, denn am Ende zählen ja handschriftliche Klausuren und Abgaben. Das gleiche gilt für mündliche Prüfungsformate, auf die wir wieder stärker zurückkommen müssen.“ Wissen gezielt abzufragen, werde in Zukunft mehr an Bedeutung gewinnen.
„ChatGPT leitet kreative Prozesse ein und das kann für unseren Unterricht sowie für die Schüler sehr bereichernd sein“, sagt Paul Meurer abschließend.