Die Rede ist von Martin Becker, der erneut seine Familie in den Fokus eines Romans gerückt hat. Eine Familie, die dem Arbeitermilieu entstammt, ein Milieu, welches heutzutage entschwindet. Lange Wegbegleiter seines heimatlichen Lebens waren die Mitarbeiterinnen der Stadtbücherei, insbesondere die ehemalige Leiterin Christiane Flick-Schöttler. Aus Solidarität mit ihr initiierte Becker eine Petition gegen ihre Entlassung als Leiterin der Stadtbücherei, die er zu ihrer Unterstützung jetzt abgeben möchte. „777 Personen haben sich an der Petition beteiligt, diese nimmt ihren Weg und meine Arbeit ist getan”, verkündete Becker zu Beginn.
„Ich bin sprachlos, was ich ja eigentlich nicht sein dürfte”, zeigte sich Becker sehr erfreut über die hohe Zuhörerzahl in der Christuskirche. 100 Personen zählten die Organisatoren aus dem Heimathaus. „Ursprünglich sollte meine Lesung ja an einem anderen Ort stattfinden, aber ja, eigentlich ist hier doch der richtige Ort dafür”, begrüßte Becker seine Gäste. „Hier bin ich getauft worden und somit ist es ein Heimspiel für mich.”

Martin Becker mag nicht allen Leuten bekannt sein, doch in seiner Heimatstadt kennen ihn doch viele noch aus seiner Zeit als Schüler, Nachbarn oder auch freier Mitarbeiter der Tageszeitung. Da steht vor ihm in der Signierstunde sein ehemaliger Schulleiter Hans-Günter Lubeley vom Albert-Schweitzer-Gymnasium, dem er als Lehrer des Deutsch-Leistungskurses viel zu verdanken hatte. Im Anschluss an die Lesung führt die ehemalige Lehrerin Renate Burggräfe ein interviewähnliches Gespräch mit ihm, über seine schriftstellerischen Intentionen, das Genre im Allgemeinen, den Inhalt des Buches. Wortwitz amüsiert auf beiden Seiten. Die Zuhörer fühlen sich bestens unterhalten.

Die Stimme Beckers greift, zieht in den Bann. Intensiv liest er Passagen aus seinem neuesten Roman „Die Arbeiter” – ein Roman mit autobiographischen Zügen. Diejenigen, die Becker kennen, kannten, erkennen so manches Ähnliches. Erneut verarbeitet Becker das Leben seiner Familie in der Kleinstadt, der Familie, die aus dem Arbeitermilieu kommt, die es nicht leicht hatte, sich abrackerte für ein Reihenhaus, das ihnen doch nie ganz gehörte bis zuletzt.
Im Prolog liest er über die Maloche, den Alkoholkonsum seines Vaters, Gewohnheiten, die nicht durchbrochen werden. Die Kinder sind das Wichtigste für die Mutter, daher verschenkt sie ihren Reisegewinn, denn “wie soll das ohne sie gehen?”. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie gezählt sind. Erst stirbt der Vater, dann die Mutter, dann eins ihrer Kinder. Nach dem Tod des Vaters tritt der Bruder an seine Stelle. Dieser kümmert sich um Mutter und Schwester, neben der Arbeit, neben der eigenen Familie, jahrelang.
Als letzter Akt der Fürsorge: Das Reihenhaus wird entrümpelt, verkauft. Selbst nach Begleichung des Darlehens bleibt noch Geld übrig für zwei Heimplätze für Mutter und die behinderte Schwester. Es dreht sich viel um Vergangenheit, die Beeinflussung des Lebens durch die Kirche, obwohl sie ja keine Kirchgänger sind.
Warum greift Becker wieder einmal seine Familiengeschichte auf? Damit sie nicht verloren geht. Kaum noch Verwandtschaft, keine Tagebücher, keine gesammelten Erinnerungen, die von dieser Familie erzählen könnten, einer Familie von Bergleuten, von Arbeitern. Arm und stolz zugleich. Becker erinnert sich an die Geräusche des Familienlebens: das erste Knacken beim Öffnen der Schnapsflasche, das Knistern der angezündeten Zigarette, das Rattern der Nähmaschine, das Fiepen der Hörgeräte der Mutter. Sie sind verstummt, weg, wie die Familie, die sie einmal waren.
„Wie mache ich dieses Buch zum Roman und nicht zur Autobiographie?”, stellte Becker in den Raum. Eine Schwester, die bereits bei der Geburt gestorben ist, lässt Becker im Roman weiterleben. Sie wird zur Figur, die sich gegen dieses Leben auflehnt, die ins belgische Ostende zieht. Ja, es dreht sich vieles um Rückblicke, aber es ist auch ein Buch für die Zukunft. Autor und Erzähler haben eine Gemeinsamkeit: einen Sohn. Sinnbild für Anfang und Zukunft.
Durch seine intensive Art der Lesung machte Martin Becker beim Zuhören Appetit auf dieses Buch.
