Frauen, die nach einem Erdbeben verschüttet wurden, dürfen nicht gerettet werden, da Männer (sofern sie nicht die Ehemänner oder Väter sind) sie nicht anfassen dürfen. Männer werden ausgepeitscht, weil sie für den Frieden arbeiten. Bei Frauen reicht für diese unmenschliche Strafe schon ein falsch getragenes Kleidungsstück. Das ist das Leben in Afghanistan. Dort leben noch immer Menschen, die der deutschen und anderen westlichen Regierungen über Jahre geholfen haben, das Land aufzubauen, und die nach der Machtübernahme der Taliban dort zurückgelassen wurden. Zwei Familien leben jetzt in Meinerzhagen und sie erzählen von ihrem Leben früher und jetzt und von den Plänen, die sie für ihre Zukunft haben.
Man sieht ihnen die Schrecken, die hinter ihnen liegen, nicht an. Aber wenn sie anfangen, von ihrer Heimat zu erzählen, merkt man den tiefen Schmerz, der noch in ihnen steckt. Mahjabin Rahim (29), die bis zur Machtübernahme der Taliban als Hebamme gearbeitet hat, und ihr Mann Yaha Erfan (38), Professor der Soziologie, sind zusammen mit ihren drei gemeinsamen Kindern und dem Sohn aus Erfans erster Ehe in Meinerzhagen angekommen. Die Kinder zwischen drei und 18 Jahren besuchen alle Schulformen, die Meinerzhagen anbietet. Vom Kindergarten über die Grundschule, die Sekundarschule und sogar das Gymnasium für den Ältesten.
Mit ihnen gemeinsam ist Shuaila Muhsini (58) mit ihrem Mann und ihren drei erwachsenen Kindern nach Meinerzhagen gekommen. Eines davon ist Shabir Ahamd Noori (30), der mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn auch die Reise von Islamabad (Pakistan) über die Türkei nach Deutschland geschafft hat. Das erste Teilstück von Kabul bis nach Pakistan mussten sie noch selbst, ohne westliche Hilfe, organisieren. Ein Vorgang, der nicht so leicht ist, wie es sich liest.
Die Familien mussten untertauchen
Beide Familien mussten seit der Machtübernahme der Taliban untertauchen, denn sie standen auf deren gefürchteter "Schwarzen Liste". Was mit den Menschen geschieht, die im Augenmerk der Taliban stehen, hat Yahya Erfan in einem Schriftstück festgehalten, das er auf dem Fest der Kulturen, das am 20. September in Kierspe stattfinden wird, vortragen will.
Darin heißt es: "Erst vor wenigen Tagen wurden mehr als hundert Mädchen und junge Frauen an einem einzigen Tag in Kabul von den Taliban entführt, und wir wissen nicht, in welcher Lage sie sich befinden. Viele Frauen haben schreckliche Erfahrungen aus diesen Gefängnissen, manche sind spurlos verschwunden. Dutzende Frauen und Mädchen wurden in Sportstadien vor Tausenden Männern ausgepeitscht oder von Taliban-Kommandeuren in Standgerichten erschossen." Alltag in Afghanistan für Frauen, die überhaupt keine Rechte mehr haben. Sie dürfen das Haus nicht mehr verlassen, sollen schweigen und die Mädchen dürfen keine Schule besuchen. "In 20 Jahren wird es in Afghanistan keine einzige gebildete Frau mehr geben", beklagt Yahya Erfan.
Strafe und Verfolgung betreffen die ganze Familie
Frauen wie Shuaila Muhsini, die nicht nur als Reporterin für Fernsehen und Radio gearbeitet hat, sondern auch zwei Jahre lang im Friedensministerium tätig war, sind dieser Regierung ein Dorn im Auge. Die afghanischen Herrscher sind außerdem davon überzeugt, dass ein Familienmitglied, das in ihren Augen nicht den Regeln des Korans folgt, die ganze Familie vom falschen Gedankengut verseucht. Und so lebte nicht nur Shuaila Muhsini seit der Machtübernahme in Lebensgefahr, ihrer ganzen Familie drohte die Verfolgung durch die Taliban.
Aber auch den Männern, die nicht 100-prozentig auf der Taliban-Schiene leben, geht es nicht besser. Yahya Erfan war neben seiner Tätigkeit als Professor auch als Menschenrechtsaktivist tätig. In dieser Funktion hat er internationale Firmen und Organisationen wie Unicef unterstützt. Weil eine seiner Angestellten auf einer Feier gesungen hat, wurde er, als ihr Vorgesetzter, auf die gefürchtete schwarze Liste gesetzt. Damit blieb ihm und seiner Familie nur, sich fast drei Jahre lang ständig in den abgelegensten Provinzen des Landes zu verstecken. Kann man sich vorstellen, welche Erleichterung es für ihn war, endlich die Information der deutschen Regierung zu bekommen, dass er und seine Familie bei der Ausreise unterstützt und in Deutschland aufgenommen würden?
Ein Leben, das man sich in Deutschland nicht vorstellen kann
Nein, das kann niemand nachempfinden, der es nicht selbst erlebt hat, ist Yahya Erfan überzeugt. In hervorragendem Deutsch versucht er, den Alltag darzustellen: "Wer diese Erfahrung mit der Gefahr nicht hat, der kann das nicht nachempfinden. Wir standen jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat der Todesgefahr gegenüber. Es gab keine Zukunft. Nicht für mich, nicht für meine Frau und nicht für meine Kinder. Afghanistan ist für alle, die nicht für die Taliban kämpfen, ein einziges, großes Gefängnis."
Jetzt, in Meinerzhagen angekommen, können beide Familien nach vorne schauen. "Und das tun sie mit viel Ehrgeiz und Hoffnung für die Zukunft", sagt Katrin Vollmann, die stellvertretende Leiterin der VHS Volmetal und dort verantwortlich für den Bereich Integration, Deutsch und Kultur.
Als Ehrengast bei der Integrationskonferenz der VHS
In der VHS haben beide Familien zuerst den dort angebotenen Orientierungskurs und im Anschluss sofort den Integrationskurs belegt. Und das mit einem beeindruckenden Ergebnis, wie das fast flüssig geführte Gespräch mit den Familien zeigte. Als der Landesverband VHS Menschen suchte, die sowohl den Orientierungskurs als auch den Integrationskurs besucht hatten, um darüber auf der Integrationskonferenz der VHS in Köln berichten zu können, war für Katrin Vollmann war sofort klar, dass die beiden afghanischen Familien dafür die perfekten Botschafter sind, und beide haben auch sofort zugesagt.
Zu zeigen, wie erfolgreich die Integrationskurse sein können, ist auf dieser Konferenz sehr wichtig, denn zu Anfang des Jahres wurden die Kursangebote durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge massiv reduziert. Zum Beispiel werden keine Wiederholungskurse mehr finanziert oder Eltern-Kind-Kurse können nicht mehr angeboten werden.
Nach vorne gucken - die Zukunft gestalten
Beim Gespräch mit dem Landesverband haben sie dann nicht nur von den Möglichkeiten berichtet, die ihnen die Sprachkurse bieten, sondern sie berichteten auch von ihrem vorherigen Leben in Afghanistan, ihrem Wunsch, sich in Deutschland einzubringen und gleichzeitig zu versuchen, die Lebenssituation der Menschen in ihrer alten Heimat zu verbessern. "Wir wollen die Weltgemeinschaft aufrufen, zu erkennen, was in Afghanistan passiert", wünscht sich Yahya Erfan.
Shabir Ahamd und seine Schwester, die gerade die B1-Prüfung bestanden hat, möchten hier in Deutschland auch weiter Schulen besuchen. Der Büromanager, der auch als Übersetzer tätig war, möchte studieren und dafür irgendwann von Meinerzhagen in eine größere Stadt umziehen. "Aber noch nicht sofort", ergänzt er sofort, denn er und seine ganze Familie fühlen sich in Meinerzhagen sehr wohl. "Es ist total schön", sagt er. "Wir sind zufrieden mit allem. So viele nette Leute, die uns geholfen haben. Jetzt ist eine Zukunft möglich."