Die Geschehnisse in der evangelischen Kirchengemeinde Brügge-Lösenbach beschäftigen die Opfer und viele weitere Menschen über den Tod des Mannes hinaus, der sich im Sommer 2020 das Leben nahm. Die Substudie zu der von der Evangelischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegebenen ForuM -Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt trägt den Titel „Aufarbeitung vor Ort“. Sie listet auf 75 Seiten Versäumnisse und Fehleinschätzungen auf, die dazu geführt haben, dass der eigentliche Fall bis heute nicht aufgeklärt ist und unter den Opfern des Jugendbetreuers, der auch als Presbyter tätig war, Frust und Unverständnis herrscht. Insgesamt 20 männliche Opfer des ehrenamtlichen Betreuers hatten sich gemeldet. Später berichtete eine Frau von drei weiblichen Vergewaltigungsopfern.
Die Autorinnen Helga Dill und Sabine Wallner üben zum Teil heftige Kritik an der Arbeit des Krisenstabs, der nach dem Bekanntwerden der Fälle gebildet wurde und der später in Interventionsteam unbenannt wurde.
Kirchenrätin Daniela Fricke, Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung in der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), zeigte sich am Donnerstag erschüttert über das den kirchlichen Gremien in der 75-seitigen Studie attestierte Scheitern einer umfassenden und transparenten Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. „Obwohl ich die Geschichten von Ihnen, von den Betroffenen kenne, selbst gehört und teilweise verschriftlicht habe, mit so vielen gesprochen und in unzähligen Stunden im Interventionsteam, im Presbyterium und an anderen Orten davon gesprochen habe, trifft die komprimierte Darstellung der Aufdeckungsversuche, der Verstrickungen, Machtverhältnisse, der Täterstrategie und der bis zum Sommer 2020 andauernden Aufdeckungsverhinderungen bis ins Mark“, sagte sie.
In der Studie heißt es dazu: „Der Fall Brügge-Lösenbach zeigt eindrücklich, dass die Betroffenen für die Aufdeckung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt sorgen müssen, weil das Umfeld diese Aufgaben nicht übernimmt. Der Fall zeigt aber auch, dass die Meldung von Betroffenen alleine nicht selbstverständlich ein Handeln der Verantwortlichen induziert. Verstrickungen, Machtverhältnisse und Abhängigkeiten führten dazu, dass Beobachtungen und das Ansprechen befremdlicher Verhaltensweisen von hauptamtlich Beschäftigten oder ehrenamtlich Tätigen, die im Lauf der Jahrzehnte, in denen L.B. (der Betreuer) tätig war, vereinzelt vorkamen, abgewiegelt oder offensiv zum Verstummen gebracht wurden. Erst 2020 wurden Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Jugendliche durch einen Jugendleiter ernst genommen.“
Gleichzeitig wünschte sich Daniela Fricke eine über den Studienfokus hinausgehende, intensivere Auseinandersetzung mit den Strukturen, die das Geschehen überhaupt erst möglich gemacht haben: „Darüber müssen wir noch mehr wissen, noch tiefer einsteigen, noch systematischer aufbereiten, um besser noch verstehen zu können: Wie war das möglich, dass der Täter über vier Jahrzehnte ungehindert blieb? Welche Konstellationen, Verhaltensweisen, strukturellen
Bedingungen, haben das begünstigt? Welche Rolle spielten Frömmigkeitstradition und theologische – ich möchte sagen pervertierte theologische Begründungen? Verstehen, um daraus lernen zu können, Veränderungen herbeizuführen, damit Menschen im Raum unserer Kirche geschützt sind.“
Beim Versuch der Aufklärung sei von Beginn an die Thematik der Mitwissenschaft diskutiert worden und auch wie damit umzugehen sei, heißt es in der Studie. Im Fall von zwei Pfarrern führte der Prozess schließlich zu einem Disziplinarverfahren ohne Konsequenzen für die beiden Pfarrer. Gegen einen Pfarrer, der bezüglich Mitwissenschaft immer wieder an prominenter Stelle genannt worden sei und zu dem Betroffene von der Gemeinde eine Stellungnahme einforderten, hätten die Indizien für die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens nicht ausgereicht. Hier sieht die Studie einen „fragwürdigen Argumentationsprozess“.
Zwei Fälle von Pflichtverletzung – hinsichtlich Mitwissenschaft und Verschwiegenheit – unter den Mitgliedern des Presbyteriums hätten teilweise zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen geführt. Sie seien jedoch angefochten und später relativiert worden. Wenige Aussagen und Gesprächsnotizen mit ehemaligen Mitarbeitenden seien zur Kenntnis genommen worden. Personen seien nicht aktiv angesprochen worden, um sie im Sinne konsequenter Aufklärung zu befragen, bemängeln die Autorinnen der Substudie.
Dr. Christof Grote, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, machte bei der Präsentation in Bielefeld deutlich, dass er sich etwas mehr Differenziertheit von den Studienmachern beim Blick auf die konfliktträchtige und diffuse Gemengelage im Presbyterium gewünscht hätte. Sie hatte die Verständigung mit dem Interventionsteam häufig nur schwer möglich gemacht.“ Er habe eine traumatisierte Gemeinde mit einem Presbyterium erlebt, das Prozesse durchgemacht habe, wie er sie sonst aus Trauerphasen kenne. „Gerade die Mitglieder des Interventionsteams aus dem Presbyterium sind hier in eine Position geraten, wo sie im Interventionsteam teilweise massiv kritisiert worden sind aufgrund der teilweise schleppenden Umsetzung vor Ort. Dort wiederum sind sie immer wieder als Quertreiber angegriffen worden, die die Einheit der Gemeinde und ihrer Leitung in Frage stellen. Hier wäre sicherlich ein noch deutlich runderes Bild der Konfliktlinien entstanden, wenn für die Studie auch Mitglieder des Interventionsteams aus Lüdenscheid
interviewt worden wären, wozu diese sich auch durchaus bereit erklärt hatten“, stellte er klar. All das stelle aber nicht den grundlegenden Kritikpunkt der Studie infrage: „Sehr schnell ist aus einer an den Bedürfnissen der von sexualisierter Gewalt Betroffenen ausgerichteten Arbeit eine innerkirchliche Selbstbeschäftigung geworden“, räumte Grote ein.
Für ihn sind die vorgelegten Studienergebnisse Motivation und Auftrag, am Thema dranzubleiben, Versäumnisse einzugestehen und konstruktiv weiterzudenken: „Überhaupt fordert uns die Studie nun, nachzuarbeiten und genauer hinzuschauen. Sicherlich müssen wir dabei auch noch einmal einen genaueren Blick auf die Faktoren lenken, die solche Fälle sexualisierter Gewalt in unserer Kirche erst ermöglichen. Die umfangreiche ForuM-Studie zeigt hier einiges auf, was wir auf die konkrete Situation in der Gemeinde Brügge-Lösenbach noch genauer analysieren müssen, um im Sinne einer gelingenden Prävention handeln zu können. Hier müssen wir die Ergebnisse der Studie sicherlich noch ergänzen.“
Unter folgendem Link ist der komplette Text der Substudie „Aufarbeitung vor Ort“ zu finden:
www.ipp-muenchen.de/ipp/uploads/2024-03-21_IPP_Endbericht-Aufarbeitung-vor-Ort.pdf