Die kinderärztliche Versorgung in Halver ist mangelhaft – vor Ort in persona nicht existent. Eltern müssen Wege in die Nachbarkommunen auf sich nehmen, um sowohl bei akuten Krankheiten als auch bei den anfälligen U- und J- Untersuchungen versorgt zu werden. Der „schnelle Weg zum Kinderarzt“ bedeutet für Halveraner Familien zum Teil halbstündige Autofahrten – das gilt auch für andere Kommunen. Trotzdem weist der sogenannte Bedarfsplan für den Märkischen Kreis eine Versorgungsquote von 111 Prozent aus. Halver zählt neben Schalksmühle und Herscheid zur Versorgungsquote „Lüdenscheid“ – und gilt somit trotz fehlendem Kinderarzt vor Ort als „abgedeckt“.
„Die Bedarfsplanung ist nicht mehr zeitgemäß“
Dennoch kommt auch die KVWL zu dem Schluss: „Unabhängig vom Versorgungsgrad steht die Versorgung unter Druck.“ Dr. Martin Junker, Leiter der KVWL-Bezirksstelle Arnsberg, geht sogar noch weiter, indem er sagt: „Die Bedarfsplanung ist nicht mehr zeitgemäß.“ Das wird in Kommunen wie Halver deutlich. Ewa Scherf, Lehrerin und Mutter von zwei Kindern, hat dieses Problem bereits im März 2024 zum Anlass genommen, eine Petition mit dem Titel „Kinderarzt für Halver“ zu starten. Darin forderte sie die Gründung einer Kinderarztpraxis in Halver. Geschehen ist bis dahin spürbar nichts.
Ewa Scherf beschreibt das Problem: „Es ist klar geworden, dass das Fehlen einer Kinderarztpraxis in Halver die Familien mit Kindern in der Stadt und Umgebung sehr belastet.“ Allein in der Stadt Halver leben, so gibt sie an, circa 2800 Kinder, die alle mit ihren Eltern zu den Kinderärzten in den umliegenden Städten und teilweise 50 bis 60 Kilometer weiter fahren müssen. „Auch dortige Praxen arbeiten am Limit und ein Kinderarztbesuch kann schon mehrere Stunden dauern. Wenn man die Fahrtzeit einrechnet, ist es schnell eine Tagesaufgabe, die die Kinder und ihre berufstätigen Eltern zusätzlich und über Gebühr belastet.“ Die Situation zeige, so Scherf, einen dringenden Handlungsbedarf auf der Ebene der Kommunalpolitik und der Entscheidungsträger für ärztliche Versorgung.
„Das Warten auf eine Katastrophe macht wenig Sinn“
Und einige von denen hat sie nun an einen Tisch geholt. Ewa Scherf veranlasste ein Arbeitstreffen zwischen Vertretern der KVWL, Kinderärzten, Kommunal- und Kreispolitikern, Vertretern der Industrie und Arbeitgebern aus Halver; denn: „Das Warten auf eine Katastrophe macht wenig Sinn.“ Dr. Martin Junker sowie Dr. Michael Achenbach, Sprecher der Kinder- und Jugendärzte und Mitglied in der VV und KVWL, hatten am 6. Juni den Landratskandidaten und Landtagsabgeordneten der CDU, Ralf Schwarzkopf, den Bürgermeisterkandidaten der Stadt Halver, Sascha Gerhardt, die Vertretung der Industrie und Arbeitgeber in Person von Mark Wallmann aus Halver und die Bürgerinnen Ingrid Lausberg sowie Ewa Scherf in die Bezirksstelle der KVWL zu einem Gespräch eingeladen.
„Auf diesen Moment habe ich 17 Jahre lang gewartet“
Bei der KVWL und bei allen angesprochenen Kommunalpolitikern habe Ewa Scherf mit ihrem Anliegen offene Türen eingerannt, beschreibt die Pädagogin im Anschluss an das Treffen. Dr. Junker habe sie begrüßt mit den Worten: „Auf diesen Moment habe ich 17 Jahre lang gewartet“. Er betreibe seit Jahren Aufklärungspolitik in den Kommunen und stoße dabei auf viel bürokratischen Widerstand und Gleichgültigkeit angesichts des offensichtlichen Problems. Er habe seit seiner Amtsübernahme bei der KVWL immer wieder alle Kommunen angeschrieben. Die heutige Mangel-Situation sei schon damals absehbar gewesen. Nur eine habe geantwortet und ihn angehört. Junker: „Bis heute setzt sich diese Sprachlosigkeit fort.“ Junker sieht die Kommunen und auch die Kommunalpolitiker ganz klar in der Pflicht, ihre „Willkommenskultur“ gegenüber (Fach)ärzten auszubauen. Sie müssten sich bemühen. Ansprechpartner bei einer solchen Ausarbeitung sei weiterhin die zuständige Bezirksstelle der KVWL.
„Die Gründe für den Facharztmangel auf dem Land mögen hinreichend bekannt sein und reichen von zu wenig Studienplätzen für Medizinstudenten in Deutschland über moderne Arbeitszeitmodelle junger Ärztinnen und Ärzte bis hin zu einer erhöhten Anzahl der beschäftigten Fachärzte in den Krankenhäusern und Kliniken, die auf die EU Richtlinie zu den Arbeitszeiten der Ärzte zurückzuführen ist“, beschreibt er das Problem.
Das Fachärztedilemma lasse sich unter mehreren Defiziten zusammenfassen, erfuhren die Teilnehmer der Arbeitsgruppe: Zum einen das Ausbildungsdefizit in Form von zu wenigen Studienplätzen, dann das Planungsdefizit in der Flächenversorgung, das Weiterbildungsdefizit und auch das Defizit in der praktischen Arbeit, gingen mehr als 60 Tage im Jahr nur für Bürokratie drauf.
Die gesundheitliche Versorgung im Kreis sei zudem durch vorhandene Altersstruktur gefährdet. 51 Prozent der praktizierenden Hausärzte sei bereits mindestens 60 Jahre alt, 29 Prozent sind mindestens 65 Jahre alt. Diese Mediziner, machte Junker deutlich, müssten in den kommenden Jahren ersetzt werden.
Ein aktuelles Förderprogramm der Stadt Halver, mit dem Fachärzte durch finanzielle Anreize nach Halver gelockt werden sollen, zeige nur wenig Wirkung und sei im Ansatz nicht zielführend, beschreibt auch Sascha Gerhardt, CDU-Bürgermeisterkandidat in Halver. Zwar stehe er nach wie vor hinter dem Programm, vertrete aber mit neuem Wissen die Auffassung, dass die Förderkriterien ausgeweitet werden müssten. Denn die kreisweite Erfüllungsquote von 111 Prozent lasse die Niederlassung eines weiteren Kinderarztes in diesem Bereich und somit eben auch in Halver, nicht zu. „Ein Gespräch mit der KVWL wäre im Vorhinein sicherlich nicht verkehrt gewesen. Solch gut gemeinte Stipendien bleiben sonst schnell unangerührt“, beschreibt auch Dr. Junker seine Erfahrungen.
Das Arbeitstreffen habe aber einen völlig neuen Ansatz offenbart: „Die Lösung könnte sein, dass ein bereits niedergelassener Arzt einen Kinderarzt einstellt und für beziehungsweise mit ihm eine Dependance in Halver eröffnet. Das würde gehen“, erläutert Gerhardt im Gespräch mit LokalDirekt. Denn: Eine Zweigstelle laufe nicht über den Bedarfsplan. Was für Potenziale dieser Ansatz biete, sei ihm und alle anderen Teilnehmern erst jetzt klar. Und daran wolle man nun gemeinsam arbeiten. „Wir haben längst nicht alle Möglichkeiten ausgelotet, haben deutlich mehr Potenziale“, betont Gerhardt.
Ohnehin zeige die Statistik, dass sich Ärzte mittlerweile lieber anstellen ließen, anstatt selbstständig tätig zu sein. Dazu passe auch das schon in Halver seit Jahren immer wieder aufkeimende aber bislang nicht in die Tat umgesetzte Vorhaben eines Medizinischen Versorgungszentrums (MZV). Zudem werde ein Teilzeitmodell bei Hausärzten immer beliebter. Für den ärztlichen Nachwuchs, auch das zeige die Statistik, sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von hoher Bedeutung. Die Vereinigung sieht daher den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten und Bildungsmöglichkeiten für die Ansiedlung von Ärztinnen und Ärzten als sehr wichtig.
Nach dem Arbeitstreffen am 6. Juni wurden von der Vertretern weitere Arbeitstermine vereinbart, die das Ziel haben, eine sicht- und spürbare Lösung in Form von Gründung der neuen und Erhaltung der bestehenden Facharztpraxen in der Region und insbesondere in der Stadt Halver herbeizuführen, sagt Ewa Scherf. Erste konkrete Ansätze verfolge man bereits.