Lars Klingbeil wurde zwar nicht gerade wie ein Popstar im Städtischen Museum empfangen, doch immerhein ein Autogrammjäger wartete am Eingang auf den SPD-Spitzenpolitiker, der gemeinsam mit Bürgermeister Sebastian Wagemeyer zum Bürgergespräch kam. (LokalDirekt berichtete)
Im Museum warteten etwa 100 Gäste, überwiegend aus sozialdemokratischen Parteikreisen. Für den SPD-Landtagsabgeordneten Gordan Dudas regelrecht ein Heimspiel, und auch Nezahat Baradari, die aus Attendorn stammende Bundestagsabgeordnete, folgte der Einladung. Anmoderiert wurde die Veranstaltung von Fabian Ferber. Der SPD-Stadtverbandsvorsitzende freute sich sichtlich über den Gast, der sich ausgesprochen bürgernah gab und zunächst begann, bewusst aus dem parteilichen Blickwinkel über die Arbeit in Berlin zu berichten.

Vier Themen lagen Klingbeil, der seit rund anderthalb Jahren gemeinsam mit Saskia Esken an der Spitze der deutschen Sozialdemokraten steht, besonders am Herzen. Im anschließenden Bürgergespräch zeigte sich, dass diese auch das Publikum bewegten. Kein Wunder, denn wenn es um die eigene Heizungsanlage oder die Sorge vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges geht, muss ein Thema nicht erst auf die lokale Ebene heruntergebrochen werden – die Folgen des Türkei-Erdbebens schockieren auch hierzulande.
Umso mehr, wenn ein unmittelbarer Augenzeuge von den derzeitigen Zuständen in den betroffenen Gebieten berichtet: Ein Besuch dort habe bei Klingbeil nach dessen eigenem Bekunden eine tiefe Betroffenheit hinterlassen. So berichtete er von seinem Aufenthalt in einem von Roma bevölkerten Camp: „Die haben da nicht mal die Mittel, damit sich Kinder einen Fußball basteln können.“ Anlass der Reise in die Türkei waren Gespräche mit der sozialdemokratischen Schwesterpartei CHP, sowie der linksgerichteten, kurdischen HDP.
Zum Thema „Ukraine“ konnte sich Lars Klingbeil einen Seitenhieb auf die Partei Bündnis 90/Die Grünen nicht verkneifen: „Da werden unsere grünen Freunde, die ich sehr schätze, und die die Bundeswehr früher nur als etwas kannten, wogegen es zu protestieren galt, plötzlich zu Waffenexperten“.
Wichtiger war Klingbeil aber der Hinweis, dass Waffenlieferungen an die Ukraine seines Erachtens nach nicht bedeuten würden, dass es keine diplomatischen Bemühungen mehr gäbe, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Diplomatie habe seiner Meinung nach nichts damit zu tun, dass man vor Putin einknicke, im Gegenteil: Er sehe es als Pflicht an, dass der Bundeskanzler regelmäßig mit dem russischen Präsidenten telefoniere, um diesem die Haltung Deutschlands und seiner Verbündeten klarzumachen.
Auch die Diskussion um die Chinareise von Kanzler Scholz bewerte er als „hysterisch“, vielmehr sei es auch dort richtig, für europäische Interessen zu kämpfen.
Die Rahmedetalbrücke sei nicht der Grund dafür, dass er nach Lüdenscheid gekommen sei, doch wäre ihm natürlich klar, wie wichtig dieses Thema für die Region sei. Klingbeil vertritt die Haltung, dass „wir alle lernen müssen, dass Krisen entstehen können“. Das Stichwort laute „Transformation“: „Vor 30 Jahren hatten wir eine Infrastruktur, auf die wir stolz sein konnten“, so der Politiker. Nun gebe es den Klimawandel und auch einen Technologiewandel. Er sehe die Politik in der Pflicht, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen.
Am Ende seines Vortrages hatte er Neuigkeiten im Gepäck, die wohl manchen beruhigen sollten: Die ursprünglichen Pläne hinsichtlich des Austausches alter Heizungsanlage seien vom Tisch, so Klingbeil. „Robert Habeck wird nicht 2024 zu Ihnen kommen und ihre Heizungsanlage raus reißen.“
Bürgermeister Sebastian Wagemeyer fasste sich mit seiner Ansprache kurz und nahm die Arbeit der Bundesregierung in Schutz: „Die hat seit ihrem Einstieg eine Menge sportlicher Aufgaben zu bewältigen“, so Wagemeyer.

Ähnlich beurteile er die Lage im Lüdenscheider Rathaus: „Die Stadtverwaltung bewegt sich von Krise zu Krise, wir sind nur noch mit dem Feuerlöscher unterwegs.“ Dabei klang er hinsichtlich des wohl größten Problems zuversichtlich: „Für den Brückenneubau ist festgelegt, dass der Verkehr 2026 wieder rollen muss.“ Und für jeden Tag, den dieses Ziel früher erreicht würde, seien Bonuszahlungen vorgesehen.
Aus ganz unterschiedlichen Themenbereichen wurden von den Gästen Fragen und Wünsche an Wagemeyer und Klingbeil formuliert. So kam vom früheren Bürgermeister Dieter Dzewas die Frage nach der Umsetzbarkeit der Wohnungsbaupläne, vor allem im Hinblick auf die energetischen Auflagen.
Lars Klingbeil erklärte, die bundesweit geforderten 400.000 Wohnungen würden natürlich nicht in wenigen Jahren erbaut werden, sondern über einen Zeitraum bis zu fünfzehn Jahren. Außerdem seien nur ein Viertel davon als geförderte Sozialwohnungen vorgesehen.
Ein im Publikum sitzender Lehrer der Lüdenscheider Adolf-Reichwein-Gesamtschule kommentierte Wagemeyers Vorschlag, bei den Themen Planung und Genehmigung mehr Mut zu zeigen. Der Pädagoge habe bei der Stadtverwaltung kürzlich genau das Gegenteil erlebt, und ordnete dies als „Realsatire“ ein. Auslöser war eine beschriftete Lkw-Plane, die seit vierzehn Jahren als Banner in der Schule hängt. Und plötzlich der Feuerwehr nach einer Brandschutzübung ein Dorn im Auge war: Sie empfahl, diese aufgrund möglicher Brandgefahren zu entfernen. „Die Plane ist aus flammhemmendem Material – und noch nie hat da jemand herumgezündelt“, erklärte der Lehrer und ärgerte sich besonders über die Verwaltung, die aus der Empfehlung der Feuerwehr gleich eine Anordnung machte.
Bürgermeister Wagemeyer, bekanntermaßen selbst ehemaliger Lehrer, nahm die Anekdote zum Anlass, von der Besichtigung einer niederländischen Schule zu berichten. Die habe mit ihrer Einrichtung auf die Delegation aus Lüdenscheid einen sehr positiven Eindruck gemacht. Der Dämpfer folgte aber bereits auf dem Rückweg, wo erklärt wurde, dass dies alles aufgrund von Bau- und Sicherheitsvorschriften in Deutschland nicht umsetzbar sei. Wagemeyer kommentierte dies trocken: „Es ist nicht bekannt, dass in Holland jedes Jahr 50 Schulen wegen aufgehängter Bilder abfackeln.“
In verschiedenen Facetten wurde auch die überbordende Bürokratie in Deutschland angesprochen. Lars Klingbeil sieht darin ein wesentliches Nadelöhr in verschiedensten Bereichen der Verwaltung. Und forderte mehr Vertrauen – am Beispiel der Beschaffung von Material für die Bundeswehr.
Wo jede Ausgabe über 1.000 Euro vom Bundeswehrbeschafftungsamt in Koblenz abgesegnet werden müsse: „Glauben Sie daran, dass der SPIEGEL demnächst über fünf Kommandeure berichten wird, die 1.200-Euro-Rasenmäher zur Grünflächenpflege der Kaserne bei der eigenen Cousine gekauft hätten?“, frotzelte Klingbeil. Seine Haltung ist klar: Dienststellen sollen mehr Verantwortung erhalten, nicht nur in Etat-Fragen. Dadurch könne die Bürokratie deutlich entlastet werden – was wohl nötig zu sein scheint, wie ein Herr aus dem Publikum berichtete, der sich als Mitarbeiter der Kreisverwaltung vorstellte. Er wies darauf hin, dass der Fachkräftemangel auch die Verwaltungen schwächen würde. Sein Wunsch: „Einfachere und verständlichere Gesetze, die sich auch mit weniger Mitarbeitenden umsetzen lassen.“
Einen völlig anderen Wunsch trug Bundestagsabgeordnete Nezahat Baradari vor: Die Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde forderte die Grundsicherung für Kinder. In dem rund zweistündigen Bürgergespräch kamen noch viele andere Aspekte auf den Tisch. Vernünftige Konzepte zur Zuwanderung, aber weniger aus dem Blickwinkel einer etwaigen Kontrolle, stattdessen solle eine Willkommenskultur gefördert werden.
Offen bleibt, wie sich die Diskussionen an diesem Abend entwickelt hätten, wenn mehr Vertreter anderer politischer Lager den Weg zu diesem Bürgergespräch gefunden hätten. Schuldzuweisungen an der aktuellen Situation gab es wenige, es blieb stets konstruktiv.
Welche Gesprächsthemen beim anschließenden Umtrunk noch auf die Stehtische kamen, ist nicht überliefert.
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