Dem Publikum im vollbesetzten PZ der Gesamtschule will Gauck beibringen, „eine Figur wie Putin besser lesen und verstehen zu können“. Dazu gibt es „erstmal zehn Minuten Sowjetkunde“. – Nachhilfe in neuerer Geschichte. Locker im Plauderton. Faktenbasiert, präzise, aber nie professoral belehrend. So macht „Nachhilfeunterricht“ Spaß. Der evangelische Theologe und Politiker agiert auf Augenhöhe mit dem Auditorium, verzichtet auf protokollarisches Geplänkel. Anrede mit Namen reicht.
Gauck, von 2012 bis 2017 Bundespräsident, zuvor Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, gab einen Einblick in das System von Geheimdiensten wie KGB und Stasi, ihre Mechanismen, Macht unter allen Umständen zu erhalten. „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, der Titel seines neuen Buches, war Thema bei der KUK-Lesung. Politische Entwicklungen verknüpft Gauck mit autobiografischen Elementen, lebensnahen Beispielen. Er lobt Brandts Entspannungs- und Schmidts Nachrüstungspolitik, die Annäherung gebracht, aber auch Abschreckung aufrecht erhalten haben.
Putins Paradigmenwechsel
Das Mantra „Sicherheit in Europa geht nur mit Russland“, habe spätestens bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 Risse bekommen. Da habe Putin mit der Legendenbildung begonnen, dass die NATO zu nah an Russland rücke. Gauck sieht darin die Erfindung der „Legende von der NATO-Bedrohung“. Parallel schildert er, wie Autokraten ihre Macht sichern und schrittweise Bürgerrechte abschaffen. Deren Herrschaftstechnik gründe darauf das Gewissen abzulösen durch absolute Loyalität zum System. Neue Ideologie sei es, dem dekadenten Westen Paroli zu bieten.
Dem, so Gauck, müsse man entgegentreten. Beschwichtigungen, ängstliche Zurückhaltung seien gegenüber Autokraten nicht angebracht. Als Beispiel führt er die Appeasement-Politik Englands gegenüber Hitler an. Für Pazifismus hegt Gauck großes Sympathie, sieht aber – Beispiel Ukraine-Krieg – die „moralische und politische Pflicht dem Opfer beizustehen“. Es gebe „einen legitimen Einsatz von Waffen“. Das sei „nicht schön, aber manchmal notwendig.“ Die Ukraine kämpfe auch für unsere Freiheit. Damit verbundene Ängste seien zähmbar, so Gauck.
Zur Bedrohung der Demokratie von außen komme die von innen, lenkt er den Blick auf Populisten. In vielen Ländern seien Rechtspopulisten erfolgreich. Studien zeigten, dass dort etwa ein Drittel der Menschen ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit hätten, Veränderungen eher ablehnten, sich von Wandel bedroht fühlten und klare Führung und deutliche Ansagen bevorzugten. Eine Wählergruppe, die nach außen driftet, „wenn die Parteien diese Bedürfnisse nicht mehr abdecken“, so seine Analyse zum Aufstieg von AfD und BSW (Bündnis Sarah Wagenknecht). Mit ihnen müsse man diskutieren, wer unser Land aufgebaut hat. Unsere Eltern und Großeltern hätten das Land zu dem gemacht, was es heute ist, „rechtschaffene Leute“ und eben nicht diese Populisten.
Nötige Zuwanderung – ein Angstthema
„Was wir gemeinsam geschaffen haben“, gelte es zu verteidigen, appellierte er den Vereinfachern entgegenzutreten. Die Mehrheit der Wähler dieser Parteien seien keine Nazis, wohl aber „verunsicherte Konservative“. Der Deutsche „hat Rücken“, griff Gauck das Thema Zuwanderung und wies darauf hin, dass schon viele Job von Zugewanderten erledigt würden, in der Pflege, der Gastronomie, im Handel, bei Dienstleistern und in der Industrie. „Was wäre los, wenn alle Zugewanderten weg wären?“. Gauck hält Zuwanderung für nötig, aber auch die müsse gesteuert werden.
„Wenn sie nicht wissen, wer die Guten sind, wählen sie die weniger Schlechten“, ermunterte er das Wahlrecht zu nutzen und demokratisch zu wählen. „Politiker sind wie wir“. Es gebe solche und solche. Der Ex-Bundespräsident sprach sich gegen ein AfD-Verbot aus. Vom Bauch her ja, vom Kopf her nein. Er plädierte, anders als der Politik-Journalist Heribert Prantl bei den Literaturtagen im Februar, dafür, die Populisten argumentativ zu entzaubern.
Schlagfertiger Gast
Die Einladung Gaucks war ein Glücksgriff, die Moderation weniger. Als Terry Albrecht für den angesichts seines fortgeschrittenes Alters klaren und munteren Vortrag dankte, konterte Gauck schlagfertig. In Albrechts Alter hätte er mit den Füßen gescharrt und versucht öfter zu Wort zu kommen. Was braucht es einen Moderator, wenn die Akteure allemal unterhaltsamer sind und selbst wissen, was sie wie zu sagen haben?
KUK-Vorsitzender Rolf Muck hatte bei der Begrüßung daran erinnert, dass Gauck vor zwölf Jahren schon auf dem Programmzettel stand. Die Plakate und Tickets waren gedruckt. Dann kam der Anruf: Absage. Gauck war im Juni 2012 gerade zum Bundespräsidenten gewählt worden. Bürgermeister Olaf Stelse nutzte die Gunst, den Gast um einen Eintrag ins „Goldene Buch“ der Stadt zu bitten. Schalke-Manager Rudi Assauer steht schon drin, aber ein Ex-Bundespräsident noch nicht, merkte er launig an. Mit der Einladung habe KUK alles richtig gemacht und „für einen spannenden Abend gesorgt“. – Eine Prognose, die sich erfüllte.