Der Wichernkranz war im 19. Jahrhundert der Hoffnungsspender in finsterer, bettelarmer Zeit – in der Nachbarstadt Attendorn ist er heute leuchtendes Symbol zeitgemäßer christlicher Jugend- und Sozialarbeit. Zum vierten Advent finden zwei Andachten und Impulse am Kranz statt.

 

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Kein Mensch wird schlecht geboren, keine Perspektivlosigkeit hat eine Tiefe, aus der es kein Herauskommen gäbe – das ist der Geist, der dem größten Adventskranz des Sauerlandes innewohnt. Vor der evangelischen  Erlöserkirche in Attendorn steht wie in jedem Jahr der Wichernkranz mit 24 elektrischen kleineren Kerzen für alle Tage der Adventszeit und vier großen Kerzen für die Sonntage. Dieser Kranz steht in der Tradition der Adventswochen im Rauhen Haus zu Hamburg, das ab 1833 eine Heimat für aufgegebene Jugendliche wurde und in dem damit vor über 180 Jahren die Tradition des Adventskranzes begründet wurde. Damals in Hamburg, heute in Attendorn ist das Anliegen im Kern das gleiche geblieben: Mit der Kraft der Liebe und der Zuversicht, die der Glauben verströmt, wird jungen Menschen der Weg gezeigt, auf dem sie ertüchtigt, sicher und behütet ins Leben treten.

Der Wichernkranz in Attendorn ist ein Zeichen der Hoff­nung und ein Symbol für Geborgenheit in  Fami­lie und Gesellschaft. Der Ursprung des Adventskran­zes war lange in Ver­gessenheit geraten: Es wa­ren vernachlässigte Kinder aus den wachsenden Armen­vierteln in Hamburg, denen ein Gründervater der mo­dernen Diakonie, Johann Hinrich Wichern, mit abge­zählten Kerzen die verblei­bende Zeit bis Weihnach­ten, bis zu den kleinen Ge­schenken und dem Weih­nachtsessen, verständlich machte.

 

Der größte Adventskranz in Westfalen - der Wichernkranz in Attendorn.
Foto: A. Schliebener

Wichern-Adventskränze erinnern nun an die histori­sche Bedeutung des Brauchs: Vor der Erlöserkir­che in Attendorn oder im Berliner Reichstag - und an einer zunehmenden Zahl weiterer Orte in Europa. Die Erschei­nungsformen von Armut haben sich seit 1839, als der erste „Wichern-Advents­kranz" entstand, indes verändert. „Armut spielt sich heute mehr im Verborgenen ab" erklärt der Attendorner  Pfarrer Andreas Schliebener. In der Hansestadt war schon 2008 als Bei­trag zu den Kampagnen ge­gen Kinderarmut von Lan­deskirchen und Diakonie in Westfalen und im Rhein­land ein Adventskranz in der Tradition Wicherns auf­gestellt worden: Mit großen Kerzen für die Sonntage im Advent und kleinen für alle weiteren Adventstage bis Heiligabend; für die lange Adventszeit gibt es also insgesamt 28 Kerzen. Die Wagenbauer und  Attendorner Handwerker hatten den Kranz gebaut und sie betreuen ihn auch bis zum heutigen Tage, haben ihn vor dem Advent 2025 sogar generalüberholt. Ralf Springob, Hubert Bock und Jürgen Junge sind die „Macher“ hinter den Kulissen.

Vom Erlös werden Schulbücher gekauft

Jeden Abend gab es 2008 eine Andacht und an diesem Zyklus hat sich seither nichts verändert. Die Kollekte dient der Unterstützung armer Kinder beim Kauf von Schulbedarf, der Advents­kranz der öffentlichen Auf­merksamkeit für das Thema Kinderarmut. Zum Ab­schluss jeder Andacht darf das jeweils jüngste teilneh­mende Kind das nächste Licht entzünden - in diesem Fall eine 24-Volt-Glühbirne tie­fer in die Fassung drehen, bis sie leuchtet. 

Auch im Berliner Reichs­tag  und  in Österreich wur­den Hoffnungslicher aufge­stellt, zum Beispiel  vor dem Klagenfurter Dom, wo ein riesiger Wichern-Advents­kranz von der Diakonie Kärnten errichtet wurde. Die Anregung und der Bau­plan dafür kamen aus Atten­dorn und finden in Österreich immer mehr Nachahmer.  Mit der Aktion „Hoff­nungsträger" sind aktuell viele Projekte entstanden, „von denen wir im Kampf gegen Kinderarmut wieder viel lernen können“, meint Pfarrer Andreas Schliebener, der Wieder­entdecker des Adventskran­zes aus Attendorn als Sym­bol gegen Kinderarmut.

Spenden und Erlöse aus den Aktionen am Wichern­kranz unterstützen in At­tendorn bedürftige Kinder und Familien vor Ort und ermöglichen u. a. die nächs­te Gutscheinaktion für kos­tenlose Schul- und Lernmit­tel. Im Sinne Johann Hin­rich Wicherns (1808-1881) und der landeskirchlichen Kampagne „Lasst uns nicht hängen" wird damit ein Zei­chen gegen zunehmende Kinderarmut und für not­wendige Bildungsteilhabe gesetzt. So wurden zu Schulbeginn 2019 – man höre und staune - 149 Kinder mit Gutscheinen für Schulmaterial im Wert von insgesamt 4.320 Euro unterstützt.

 Infotelegramm:

 - Unter dem Stichwort „Diakonie­mittel Kinderarmut" oder „Lasst uns nicht hängen“ hat die Evangelische Kirchengemeinde Attendorn das Spendenkonto 711 (IBAN: DE91 4625 1630 0000 0007 11) bei der Sparkasse ALK er­richtet.  Eine Spendenbescheinigung wird selbstverständlich ausgestellt.

- Im Internet kann man auf Youtube eine Re­portage über den Wichern-Ad­ventskranz in Attendorn und das Spiel des Posaunenchors am Kranz zu Heiligabend mit Pfarrer An­dreas Schliebener sehen, nämlich hier.

- Am vierten Adventswochenende und am kommenden Montag  finden jeweils abends die Andachten am Wichernkranz statt. Am Freitag (19.12.) geben Superintendent Dr. Christof Grote und Gabriele Maier mit Kindern der Musikschule adventliche Impulse weiter. Und Montag (22.12.) beschließt Tom Kleine von der Initiative Jüdisch in Attendorn das besinnliche Miteinander. Die Impulse beginnen jeweils um 18 Uhr.

Rauhes Haus: Ein Zuhause für verwahrloste Kinder und Vorbild

Vor 192 Jahren, am 31. Ok­tober 1833, nahm das Rauhe Haus in Hamburg seine Ar­beit auf. Der Erzieher und Theologe Johann Heinrich Wichern hatte die Not vie­ler Kinder in Hamburg gese­hen, die in völlig verwahr­losten Familien unter ärm­lichsten Verhältnissen oder auf der Straße aufwuchsen.

Heinrich Wichern (1808-1881) stammte aus ei­ner gutbürgerlichen Ham­burger Familie. Als er 15 Jahre alt war, starb sein Va­ter und er musste für den Lebensunterhalt seiner sechs Geschwister sorgen. So verließ er das Gymnasi­um vorzeitig und arbeitete als Erzieher in einem Inter­nat. Freunde finanzierten ihm das Theologiestudium, das er dank nachgeholtem Abitur absolvieren konnte. Er wurde Sonntagslehrer in einem sehr armen Hambur­ger Stadtviertel.

Damals herrschte sowohl in den Städten als auch auf dem Land große Armut. Durch die Industrialisie­rung gab es kaum noch Ver­dienstmöglichkeiten auf dem Land. Viele Menschen zogen in die Städte und er­hofften sich dort mehr Wohlstand. Doch die Arbeit an den Maschinen war äu­ßerst hart, oft verletzungs­trächtig, schlecht bezahlt. Obwohl Männer, Frauen und sogar Kinder zwölf Stunden und mehr täglich schufteten, hatten sie kaum das Nötigste zum Leben.

Im Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft

Die Folgen waren Ver­wahrlosung, Seuchen und Kriminalität. Am meisten litten die Schwächsten der Gesellschaft unter diesen Zuständen: Kinder, Kranke und Alte. Wichern bekam dieses Elend hautnah zu spüren, wenn er die Famili­en seiner Sonntagsschüler besuchte. Viele Kinder leb­ten unter erbärmlichen Zu­ständen, litten unter Hun­ger, Enge, unhygienischen Zuständen und fanden in ih­ren Familien auch keinen emotionalen Rückhalt, da ihre Eltern selbst verzwei­felt waren und sich längst aufgegeben hatten. Für die­se Kinder musste er etwas tun, das war Wichern klar. 

Vom Rechtsanwalt Karl Sieveking erhielt er ein Stück Land mit einem klei­nen Bauernhaus in einem Dorf vor den Toren Ham­burgs geschenkt. Das Häus­chen trug den Namen Rau­hes Haus. Dort zog Wichern mit seiner Mutter und sei­ner Schwester sowie eini­gen Jungen am 31. Oktober 1833 ein. 

Katechumenen der Erlöserkirchengemeinde stellten in einem Anspiel die „Erfindung“ des Adventskranzes nach und machten die frühe Kinder- und Jugendarbeit im „Rettungshaus“ des Hinrich Wichern, dem „Rauhen Haus“ spürbar. Rettung durch Liebe und Fürsorge – das ist bis zum heutigen Tag das Konzept.
Foto: St. Aschauer-Hundt

Immer mehr Kinder, die straffällig, obdachlos oder sozial gefährdet waren, wurden aufgenommen. Wi­ehern war es wichtig, dass sie in familienähnlichen Gruppen aufwuchsen, zu­sammen mit einem Erzie­her oder einer Erzieherin, die sich um höchstens zwölf Kinder kümmerte. Die Kinder erhielten Schulunterricht und eine handwerkliche Ausbildung. Wichern ging es darum, sie auf ein eigenständiges Le­ben vorzubereiten. - Nicht nur in Hamburg herrschte große Not, sondern in ganz Deutschland waren „Werke rettender Liebe" erforder­lich, wie Wichern es nann­te. Beim ersten evangeli­schen Kirchentag im Jahr 1848 hielt er eine Rede, in deren Folge sich der Cen­tralausschuss für die Innere Mission der deutschen evan­gelischen Kirche gründete. In den Jahren bis 1855 ent­standen in Deutschland über 100 Rettungshäuser, die sich am Vorbild des Rau­hen Hauses orientierten. 

Aus dem Keimzelle, dem Rauhen Haus, ist heute eine Stiftung geworden, ist eine der ältesten Einrichtungen der Diakonie in Deutschland. 1.200 Mitarbeiter wirken an 100 Standorten in Hamburg und Schleswig-Holstein und betreuen in unterschiedlichster Weise mehr als 3.000 Menschen.

Für jeden Tag ein Licht, denn: Gott ist nicht nur sonntags, sondern an jedem Tag in unserem Leben

 „Jedem fünften Kind auf der Welt fehlt es am Nötigsten“, machte die ehemalige Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Dr. Annette Kurschus, deutlich,  als sie in Attendorn einen Festgottesdienst gestaltete, der an die Errichtung des ersten Advents- und Wichernkranzes erinnerte. Kurschus gestaltete gemeinsam mit Pfarrer Andreas Schliebener, Katechumenen und dem Kirchenchor den Gottesdienst am Attendorner Wichernkranz – und auch sie warb dafür, Kinder nicht aufzugeben, sie nicht „hängen zu lassen“.

Dr. Annette Kurschus nahm von Pfarrer Andreas Schliebener eine kleine Ausgabe des Wichernkranzes entgegen.
Foto: St. Aschauer-Hundt

Im Gottesdienst wurde den Wagenbauern und Handwerkern gedankt, die sich jedes Jahr erneut einbringen, um den Kranz aufzustellen und funktionstüchtig zu machen, die ihn in diesem Jahr sogar generalüberholt haben. Auch den Firmen, die den Kranz über’s Jahr einlagern, galt der Dank der Gemeinde. – In einem mehrteiligen Anspiel, das die Katechumenen der Gemeinde eingeübt hatten, wurde die Arbeit des Rauhen Hauses ebenso anrührend wie einprägsam dargestellt und die Geburtsstunde des Adventskranzes nachempfunden. Mit 28 Kerzen hat der Wichernkranz eine Kerze für jeden Tag im Advent und zusätzlich vier große, dicke Kerzen für die vier Adventssonntage.  Warum dies Sinn ergibt, erklärte Dr. Annette Kurschus so: „Gott ist nicht nur sonntags, sondern an jedem Tag da. Deshalb gibt es für jeden Tag ein Licht“. Im übrigen  gebe das Licht „das gottgewollte Maß  für jeden einzelnen Tag“ und dies ausdrücklich das ganze Jahr über. „Das Zeichen für die Anwesenheit des Herrn“.