Das in den Fluten versunkene Biggetal beschäftigt Generationen - und ein fiktives Lüdenscheider Ermittlerpaar. Auch 50 Jahre nach dem Aufstau der Talsperre elektrisieren die verschwundenen Orte die Generationen. Ein Krimi aus dem untergegangenen Alt-Listernohl ist erschienen, verfasst von dem aus Schalksmühle stammenden Autor Michael Wagner (57), der heute in Frankenberg an der Eder lebt und schreibt.
Kennen Sie den Frührentner Theo Kettling, verehrte Leser? Oder seine Bekannte Lieselotte Larisch, eine pensionierte Schulrektorin? Falls nicht, dann werden Sie von beiden lesen, zumindest dann, wenn Sie sich für die Mystik des versunkenen Biggetals interessieren. Das Duo Kettling/Larisch ist ein fiktives Ermittlerpaar aus Lüdenscheid, das der Krimiautor Michael Wagner (57) ersonnen hat. Zwei mysteriöse Fälle haben die beiden, die man sich ein wenig wie Mr. Stinger und Miss Marple aus den Agatha Christie-Romanen vorstellen darf, bereits gelöst. Ihr dritter Fall führt sie ins Biggetal. Soviel sei aber schon verraten: Wagner nimmt seine Leser auf eine Zeitreise ins alte Listernohl und ins neu erbaute Ersatzdorf der 70er Jahre mit.
Fotogalerie
Der Sauerländer und Schalksmühler Wagner, gelernter Tageszeitungsredakteur und heute in Frankenberg an der Eder bei einem großen Heizungsbau-Unternehmen als Diplom-Ingenieur tätig, debütierte als Romanautor mit „Lünsch-Mord – ein Sauerland-Krimi aus Lüdenscheid“. Das Schreiben, insbesondere auf historischen Pfaden bei knisternder Spannung wandelnd, ist nach seiner Zeitungszeit sein Elixier geblieben. Dann taucht er ein in seine Jugendzeit, geht zurück in die 70er Jahre, schöpft aus der Erinnerung, besucht in Gedanken altbekannte Orte und beschäftigt sich mit Produkten, die einst jeder kannte. Will sagen: Er benennt Plätze und Gegenstände, die auch seinen Lesern vertraut sind und die auf diese Weise mit auf Tauchgang ins Gestern gehen. „Dass ich beim Erstlingswerk einen regionalen Krimi schrieb, war eigentlich purer Zufall“, sagt Wagner – und weiß inzwischen, wie wichtig der örtliche Bezug ist.
Nachdem Theo Kettling und Lieselotte Larisch auch im zweiten Buch „Im Grab ist noch ein Eckchen frei“ einen Fall aus dem Märkischen Sauerland klärten, geht es im dritten Krimi ins Südsauerland. Auf kuriose Weise macht das Ermittlerpaar einen Schwenk von Lüdenscheid über den Bodensee ins Biggetal, denn bei Mord macht das Leben regelmäßig seltsame Wendungen. Gemeuchelt wird eine Frau aus Neu-Listernohl, die einst im alten Tal, im alten Listernohl, lebte. So wie das Wasser die Talsohle verschlang, so hat die Getötete über viele Jahre ein Geheimnis im Dunkeln gehalten, das aber jetzt mit aller Macht ans Tageslicht drängt. Es ist das Mysterium aus dem alten Biggetal, das Michael Wagner im Roman entwickeln, für seine Leser aufdecken will.
Fotogalerie
Dazu schildert er, wie es im alten Tal zuging. „Wie haben die Leute gelebt, wie war es, als sie ihre Häuser aufgeben mussten, als sie umzogen“ – das ist, erzählt Wagner dem LokalDirekt-Redakteur im Interview, die Grundmelodie des Romans. „Das Talsperrenprojekt zog sich über Jahre. Familie um Familie musste gehen. Was machte das mit den Menschen, wie war der Verlust von Vertrautheit und Gewohntem?“ Es geht im Krimi auch um die Gefühlswelt im modernen, sauberen, als klinisch-schön empfundenen Neu-Listernohl, in dem sich der Zauber der akkuraten Ortschaft mit dem Phantomschmerz der verlorenen Heimat mischt. In dieser ambivalenten Gemütslage wird der Mord zu klären sein.
Das zu schreiben, ist keine leichte Aufgabe für einen Autoren aus Schalksmühle, der in seiner Kindheit vom Biggeprojekt nicht mehr mitbekam, als dass dort die größte Baustelle Europas tobte. Aus Schalksmühler und Lüdenscheider Sicht waren Attendorn, Sondern und Olpe Lichtjahre entfernt. „Im Roman will ich aber die Örtlichkeiten plastisch darstellen, will die Geschäfte, die es gab, nennen, die Kneipen, die Plätze.“ Deshalb nahm Michael Wagner engen Kontakt zu Hans-Werner Scharioth auf, dem ehemaligen Vorsitzenden des Dorfvereins Neu-Listernohl. Scharioth ist so etwas wie ein wandelndes Lexikon des alten und des neuen Biggetals und nahm Michael Wagner unter die Fittiche. Denn so wird der Regionalkrimi zu einem Reißer, das das Kopfkino anspringen lässt. In Gedanken gehen die Leser mit dem Ermittlerpaar durch alte und neue Straßen, erspüren das Mystische, Morbide und Vergängliche im alten Tal und fühlen den sanften Schauder, der von verlorenen Flecken und verlassenen Orten ausgeht.
Der 1954 geborene (Alt-) Listernohler Hans-Werner Scharioth ist Michael Wagner der ideale Ratgeber gewesen. „Ich habe meine Kindheit im alten Listerohl und im Biggetal verbracht“ sagt er im Gespräch mit dem Reporter und erinnert sich nur zu gut an die ihm wohlvertrauten Dörfer und Weiler sowie die Häuser, an die Menschen und an manche Begebenheit. Der heutige Pensionär hat früh begonnen, alles aus dem alten Tal zu sammeln und sein Arbeitszimmer ist der Erinnerungsspeicher der Biggetalsperre.
Dieses „Gedächtnis“ war früher der Alt- und Neu-Listernohler Pastor Müller, ein begeisterter Fotograf. „Bis zu seinem Tod veranstaltete er Diaabende und zeigte sein Dorf – das garantierte immer brechendvolle Säle“, erinnert sich Scharioth. Müllers Diaschätze lagerten im Pfarrhaus „und sollten unter dem neuen Pastor fort“. Da habe er, Scharioth, einschreiten müssen und er barg die Kostbarkeiten. „Das war der Start der Sammlung.“ Immer mehr Alt- und Neu-Listernohler trugen fortan ihre Foto-Erinnerungen zu dieser Sammlung bei und so gibt es heute einen reichen Fundus jedweder Dokumente aus dem alten Tal. „Ich meine, unsere Sammlung sei komplett. Es taucht eigentlich nichts Neues mehr auf – ich kenne alle Bilder und Filme.“ Aus der Sammlungsbewegung entwickelte sich der heutige Dorfverein, der zum 50. Jahrestag der Aufstauung der Talsperre in die Öffentlichkeit ging. „Ich dachte eigentlich, dass danach der Hype um die Talsperre und das alte Tal mal vorbei sei. Aber es geht weiter“, schmunzelt Hans-Werner Scharioth.
Zwar werden die Zeitzeugen immer weniger – an die 90 Menschen leben noch, die „unten im Tal geboren“ sind – aber umgekehrt proportional zur sinkenden Zahl der Lebenden steigt die Zahl derer, die sich brennend für die Geschichte und die Geschichten aus dem Biggetal interessieren. Die Neubürger und die dritte Generation in Neu-Listernohl wollen wissen, wie es zur Dorf-Neugründung kam. „Anfangs war ja gar kein neues Dorf geplant, aber die Umzusiedelnden forderten das vehement. 90 Prozent der Bewohner von Alt-Listernohl fanden sich schließlich in Neu-Listernohl wieder.“
Heute leben in der Neubausiedlung, die durch zwei angesetzte Erweiterungsgebiete über die Jahrzehnte ausgedehnt wurde, 1.000 Bürger. Bei den noch Lebenden aus dem alten Tal und ihren Nachfahren nicht minder bleibt eine sanfte Wehmut; sie sind quasi „Heimatvertriebene 2.0“ und organisieren sich auch deshalb im Dorfverein. Der aber macht längst nicht mehr ausschließlich in Geschichte und Sentimentalität, sondern organisiert Gegenwart und Zukunft. Arbeitskreise kümmern sich um das Erscheinungsbild und die Lebensqualität von Neu-Listernohl. Scharioth: „Die Rüstig-Gruppe – rüstige Rentner – pflegt den Marktplatz, eine Gruppe macht Flüchtlingsarbeit, eine andere kümmert sich um den Wettbewerb >Unser Dorf hat Zukunft< und im ehemaligen Restaurant Mertens ist ein Dorftreff entstanden.“

Zurück zum Krimi von Michael Wagner und zur Zuarbeit von Hans-Werner Scharioth: „Das ist der erste Krimi, der vom Dorf und dem Tal handelt. Bisher gab’s immer nur Historisches“, freut sich der Vorsitzende des Dorfvereins. Er habe sich über die Bitte des Krimiautors gefreut und sich gerne mit diesem zusammengesetzt, um über den Bau der Biggetalsperre zu sprechen und alte Bilder zu betrachten. „Er fand es zum Beispiel hochinteressant, dass seinerzeit der komplette Friedhof von Alt- nach Neu-Listernohl umgebettet wurde.“ Und natürlich wurde auch „der“ Mord zum Thema, denn im alten Biggetal gab es tatsächlich eine Bluttat. „Ein Schneider hat seinen Sohn erschossen; das war in unserer Jugend immer Thema. Mit Gänsehaut sind wir als Jungs an dem Haus vorbeigelaufen.“
Ob der unglückliche Schneider in Michael Wagners Biggetal-Krimi die entscheidende Rolle spielt, ob und wie das tragische Geschehen vor drei Generationen mit dem nun von Theo Kettling und Lieselotte Larisch zu klärenden Mord verwoben ist – das muss man sich lesend erschließen. Erschienen ist der Krimi im Münsteraner Landwirtschaftsverlag und ist zur begehrten Lektüre in auf der Achse zwischen Schalksmühle, Lüdenscheid, Attendorn, Sondern und Olpe geworden. „Freut uns riesig“, sagt Hans-Werner Scharioth und zeigt dem Redakteur zum Abschied versonnen zwei Bilder: „Das war das Elternhaus meiner Frau in Alt-Listernohl. Und da wird es abgebrannt. So war das damals in den 60er Jahren.“ Es sind noch viele Geschichten zu erzählen …
Filmtipps:
Das beste Filmdokument vom Bau der Biggetalsperre, bereitgestellt vom Plettenberger Hechmecke-Studio, stammt von der Bildstelle der ehemaligen Deutschen Bundesbahn. „Landschaft aus Menschenhand“ kann man im Netz sehen unter https://www.youtube.com/watch?v=XtWEaOhhe-U.
Ebenfalls vom Hechmecke-Studio bereitgestellt wurde der Film des Ruhrtalsperrenvereins „Ein Tal versinkt im See“, aufzurufen unter https://www.youtube.com/watch?v=n0ym9gvtEK8 .
























