Nachdem Hausherr und Schulleiter Sven Dombrowski in seiner Begrüßung augenzwinkernd angemerkt hatte, mit Wickerts Gute-Nacht-Gruß sozialisiert worden und gut in den Schlaf gekommen zu sein, verfolgten die Besucher hellwach die Lesung. Die Beziehungen der beiden lange verfeindeten Nachbar-Länder hat Wickert auf 200 Seiten in seinem neuen Buch „Salut les amis“ (z. dt. „Hallo Freunde“) aufgeschrieben, garniert mit autobiografischen Einsprengseln. Persönliche Geschichte verknüpft er mit den großen politischen Handlungssträngen.
Als die Familie in den 1950er Jahren nach Frankreich zieht, weil der Vater, Diplomat, dorthin versetzt wurde, machten die Wickerts Urlaub in einem Ferienhaus in der Normandie. Über Nacht hatte jemand ein Hakenkreuz an ihr Domizil gemalt. Noch als Wickert, selbst Jahrgang 1942, 13 Jahre alt war, sah er Krieg mit Frankreich noch als etwas Normales. In 400 Jahren davor hatten sich die Nachbarländer 23-mal bekämpft. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle stellten dann 1963 mit dem Elysée-Vertrag die Weichen neu, besiegelten die Aussöhnung. „Aus dem Deutsch-Französischen Vertrag hat sich viel entwickelt“, macht Wickert deutlich, verweist auf Städtepartnerschaften und Jugendaustausch.
Basis ist, dass „Menschen sich öffnen“
Anhand von Begegnungen zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, zwischen Kanzler Helmut Kohl und François Mitterrand. Gerhard Schröder und Jacques Chirac skizzierte Wickert, wie gemeinsame Politik gemacht und wie das Vertrauen dafür gewachsen ist. „Grundvertrauen entsteht, wenn Menschen sich öffnen“, so das Credo des langjährigen Frankreich-Korrespondenten der ARD. So habe Schmidt Giscard als einem der wenigen Menschen anvertraut, dass sein Vater Jude gewesen sei. „Das wurde erst bekannt , als Giscard seine Memoiren schrieb. Etwas, was unglaubliches Vertrauen schafft“, so Wickert. Beide Regierungschefs begründeten die Europäische Währungsgemeinschaft, die Vorstufe des Euros, als gemeinsamer Währung. Und Schmidt räumte später ein, dass er jede Entscheidung vor dem Hintergrund abgewogen habe, was sie für das deutsch-französische Verhältnis bedeute.
Nachdem Frankreich Helmut Kohl 1984 nicht zum 40. Jahrestag des D-Days, der Landung der Alliierten in der Normandie, eingeladen hatte, trafen sich beide zum 70. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs auf dem Friedhof in Verdun. Angesichts des Schreckens reichten sich beide Hand, suchten einander Halt. Ein Händedruck, der um die Welt ging. Für Wickert der „Höhepunkt der deutsch-französischen Versöhnung“, vergleichbar allenfalls mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau. Und Schröder und Chirac? Beide waren anfangs zerstritten. Nach einem gemeinsamen Essen und wohl einigen Gläsern Rotwein in Blaesheim (Elsaß), wurde es, wie zuvor bei Schmidt und Giscard, vertraulicher. Später übertrug Schröder Giscard bei einem EU-Gipfel, an dem er selbst nicht teilnehmen konnte, das deutsche Stimmrecht. „Seit Merkel gibt es eine solche Beziehung nicht mehr“, bilanziert Wickert.
„Normalität stimmt zuversichtlich“
Optimistisch stimme ihn, dass auch zwischen den Menschen inzwischen Normalität herrsche. So zog Ulrich Wickert nach 60 Minuten ein positives Fazit der Beziehungen zum westlichen Nachbarn.
Weitere Anknüpfungspunkte, wie kulturelles Verständnis verbessert werden könne, wollte Moderatorin Kirsten von Hagen in der anschließenden Gesprächsrunde von dem Gast wissen. Das auch vor dem Hintergrund, dass Französisch an den Schulen und Unis nicht mehr so gefragt sei. Wickert plädierte dafür, bei Städtepartnerschaften auch den Jugendaustausch zu forcieren, sich aber auch mehr mit der Kultur zu beschäftigen, etwa Filme mit dem den Franzosen eigenen Humor zu goutieren. Er machte aber auch deutlich, dass Deutsche und Franzosen in manchen Sachen, etwa Bedeutung des Waldes hier und der Atomkraft dort, anderes ticken. Dass dem jeweils ein anderes Verständnis zugrunde liege.
Den gut 200 Besuchern, von denen er als „Mr. Tagesschau“ wohl schon manche im Sessel hatte schlafen sehen, wünschte er nach 90 Minuten wie gewohnt einen „angenehmen Abend und eine gute Nacht“. Satter Applaus für ein gleichermaßen informatives wie unterhaltsames Vorabendprogramm begleitete den Gast zum Buchstand, wo Wickert, der 2010 schon mal hier zu Gast war, gerne die Signierwünsche erfüllte.