Das Sterben ist ein Teil des Lebens und doch berührt es jeden auf besondere Weise. In stillen Räumen der Pflegeheime, auf Friedhöfen, bei Abschieden in der Familie oder in Hospizen wird der letzte Weg begleitet – geprägt von Ritualen, Entscheidungen und Momenten voller Nähe und Verlust. Wie Menschen sterben, trauern und erinnern erzählt viel über das Leben selbst. Für die Reportagereihe „Wie sterben Menschen heute?“ besuchten die LokalDirekt-Volontäre Amaris Seegmüller und Paul Hösterey sowie Praktikantin Carlotta Warmuth Einrichtungen, die täglich mit dem Lebensende konfrontiert sind. Teil 6 der Serie umfasst einen Besuch beim Pfarrer Martin Pogorzelski in Halver.
Die Tür öffnet sich, ein Mann steht im Türrahmen: Pfarrer Martin Pogorzelski. Ein ruhiger Blick, ein freundliches Lächeln, die Hände gefaltet und bereit zum Gespräch. Durch das kleine Fenster hinter ihm fällt Sonnenlicht in den Raum, warm und golden, und legt sich auf das kleine Sofa, auf den Schreibtisch, auf die Bücher. Der Raum ist still, nur das Licht bewegt sich und zeichnet Muster, während der Tag langsam steigt und das Gespräch beginnt.
Begegnungen mit Sterbenden und Trauernden
Pfarrer Pogorzelski wird regelmäßig zu zwei Arten von Terminen gerufen: Trauerfeiern, rund zwei pro Woche, und Besuche bei Sterbenden, meist auf Bitte von Angehörigen. „Meistens rufen Angehörige an und sagen: 'Mein Vater, meine Mutter oder andere Angehörige liegen im Krankenhaus. Können sie vorbeikommen?' Um mit ihnen zu sprechen, zu reden und zu beten. Vor zwei Minuten erst habe ich wieder eine Anfrage für eine Trauerfeier bekommen“, erzählt er, während er seine Gedanken zu ordnen scheint. Dabei betreut er ausschließlich Mitglieder seiner Kirchengemeinde in Halver, insgesamt rund 4900 Menschen. „In der Regel beerdigen wir nur Menschen aus unserer Gemeinde. Wenn Leute aus der Kirche ausgetreten sind oder zu einer anderen Konfession gehören, werden wir gar nicht gefragt.“
Die Häufigkeit der Besuche variiert stark. Manchmal reicht ein einzelner Besuch, manchmal folgen weitere Treffen, um die Angehörigen bei ihrem Abschied zu begleiten. „Oft ist es tatsächlich nur ein einmaliger Besuch. Gelegentlich aber auch zwei oder drei Mal, zum Beispiel wenn man nochmal zu den Angehörigen fährt, um mit ihnen Abschied zu nehmen“, erklärt er, seine Hände locker ineinander verschränkt. Diese Begegnungen seien intensiv, wenn auch manchmal nur kurz, und würden eine bewusst professionelle Distanz erfordern.
„Besonders schwer ist der Tod junger Menschen“, erzählt er gefasst. „Ich glaube sogar, dass das von der Schöpfung her so vorgesehen ist. Wenn wir alles Leid gleich intensiv erleben würden, würden wir das gar nicht aushalten. In diesem Moment sind gerade X-Leute schwer krank in Halver und liegen vielleicht sogar im Sterben. So eine große Menge an Leid würden sie und ich gar nicht verkraften. Und von daher ist es natürlich so, dass es einen unterschiedlich stark berührt.“
Erste Erfahrungen und emotionale Eindrücke
„Mir war von Anfang an bewusst, dass der Tod Teil meiner Arbeit sein wird“, erläutert er. Doch es seien auch die Momente des Lebens, Taufen, Konfirmationen, Begegnungen mit Kindern, die für ihn Lichtpunkte setzen und Wärme in seine Arbeit bringen. An seine erste Beerdigung in Halver erinnert er sich noch genau: Ein zweijähriges Kind, plötzlich verstorben. „Das ist jetzt 13 Jahre her und es war natürlich absolut schrecklich. Der Hausarzt meinte tröstend: 'Das Kind hat vom ersten bis zum letzten Atemzug intensiv gelebt, es hat nichts gemerkt'.“
Für den Pfarrer gehört auch die Begleitung der Angehörigen untrennbar dazu. Dabei gehe es ihm nicht nur um organisatorische Abläufe, sondern auch darum, Halt zu geben in einem Moment, der von Unsicherheit und Verlust geprägt ist. „Das erste Ziel ist, dass die Angehörigen eine gewisse Sicherheit bekommen. Es ist etwas anderes, wenn man sich vorbereiten konnte, als wenn Leute plötzlich sterben. Ich biete ihnen zunächst einmal einen Rahmen, damit sie ihre Gefühle und Gedanken in diesen Gesprächen äußern können.“ Seine Stimme wird leiser als er über die Verantwortung spricht, die ihm die Familien anvertrauen: „Das Primäre ist die Vorbereitung der Trauerfeier und die Absprache mit den Angehörigen."
Angst vor dem Tod und die christliche Perspektive
Viele Menschen wenden sich in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens noch einmal neu oder bewusster Gott zu. Doch Pogorzelski beobachtet, dass es weniger der Tod selbst ist, vor dem sie zurückschrecken, sondern die Schmerzen, die ihn begleiten könnten. „Die meisten haben Angst vor einem schmerzvollen Sterben — nicht vor dem Tod“, bekräftigt er, während er die unsichtbare Last dieser Angst beschreibt. „Fast jeder stellt sich vor, dass es nach dem Tod besser wird. Die Allermeisten glauben an eine Art der Weiterexistenz oder an ein Ende, das den Schmerz überwindet.“ Selbst Menschen ohne festen Glauben trügen diese Vorstellung in sich. Ein leiser Hoffnungsschimmer, der sich durch den Schleier der Angst ziehe: „Diejenigen, die glauben, es geht nach dem Tod weiter, stellen sich das immer schön vor. Es ist eine säkularisierte Form des christlichen Glaubens.“
Viele Menschen glauben heutzutage nicht mehr fest christlich, doch in ihren Herzen lebt die Vorstellung von einem „guten Danach“ weiter. „Bevor es das Christentum gab, hatten die Menschen Angst: Welchen Göttern bin ich nach meinem Tod ausgeliefert? Jetzt glaubt kaum noch jemand an Christus, aber das Gefühl, dass es nach dem Tod besser wird, ist geblieben. Wer mit Christus verbunden ist, tritt in das ewige Leben ein, wird ein Teil der Gemeinschaft Gottes“, erklärt er. Kürzlich habe er ein Trauergespräch mit drei Männern gehabt, etwas jünger als er selbst. Sie hätten über ihre kranke Mutter gesprochen und seien auch auf die Frage nach dem Leben danach zu sprechen gekommen. „Wieso sollte es eigentlich nach dem Tod besser sein? Werden wir nach dem Tod wirklich anders?“, fragt Pogorzelski. Und die Frage hängt wie ein Schatten im Raum.
Glaube und Sterbeprozess
Für Christen bedeutet der Tod nicht das Ende, sondern eine Trennung des inneren Menschen — Geist und Seele — vom Körper. Die Person selbst bleibt bestehen. Pogorzelski erklärt: „Die Auferstehungshoffnung der Christen orientiert sich an der Auferstehung Jesu. Es wird einen neuen, unverfallenen Leib geben, in der anderen Welt, und man bleibt als Person erkennbar.“ Die Hoffnung ruhe auf der Gewissheit, dass die Gegenwart Jesu tröstet und hält, auch wenn alles Irdische vergeht.
Diese Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod prägt den Blick auf die Sterbenden. „Manchmal merkt man, wenn jemand stirbt — auf einmal bleibt nur noch die Hülle zurück. Die christliche Vorstellung vom Jüngsten Gericht bedeutet nicht nur Strafe, sondern dass die Taten des Lebens nicht unberücksichtigt bleiben. Alles, was man getan hat, hat Wert und bleibt nicht beliebig“, so der Pfarrer. Es gehe nicht um Angst, sondern um Anerkennung — um die Würde eines gelebten Lebens. „Ich gebe mein Leben und vertraue es gleichzeitig Gott noch einmal an. Und dann merke ich, wie eine Form von Frieden und Heil einströmt.“ Martin Pogorzelski spricht von einem Bild, das ihn begleite: „Das Bett hält mich. So ist der Glaube auch: Gott hält mich. Vertrauen Sie sich ihm an. So wie sie jetzt hier im Bett liegen, so hält Gott sie.“
Doch diese innere Ruhe zu finden, ist nicht einfach in einer Gesellschaft, die Schwäche kaum noch verzeiht und Leistung sowie äußere Schönheit feiert. Besonders ältere Menschen täten sich schwer, nachlassende Kräfte zu akzeptieren: „Ich glaube, die große Herausforderung ab 60, 70 ist, in guter Weise Abschied zu nehmen von den Lebenskräften, sich fallen zu lassen und gleichzeitig die Würde des eigenen Lebens zu spüren", betont er.
Die Frage nach dem Sein
Pfarrer Martin Pogorzelski geht behutsam mit der Frage nach Glauben und Spiritualität um. Er zwingt niemandem seine Überzeugungen auf, sondern bietet nur an, was Halt geben kann. „Glaube kann man nicht überstülpen. Glaube kann man nur anbieten. Wenn jemand sagt: 'Nein, ich glaube nicht', dann muss er auch nicht mit mir beten. Hier muss niemand etwas vortäuschen, hier darf man einfach sein."
Über allem stehe für die Menschen oft eine Frage, die schwer auf der Seele liegt: Warum lässt Gott all das Leiden zu? Für Pogorzelski ist das eine Frage, die tief ins Herz des Glaubens führt — weil Christen an einen liebenden Gott glauben, den selbst das Leid nicht unberührt lässt. „Das ist nicht so ein großes Thema für alle anderen Weltreligionen. Die meisten bedanken sich allerdings nicht für das Gute, sondern beklagen sich nur über das Schwere.“
Seine Stimme verliert nichts an Klarheit, doch sie trägt eine Schwere, als er die Frage aufgreift: „Warum einer leidet und ein anderer nicht — das ist eine uralte Frage. Es gab sie schon im Alten Testament. Warum geht es den Gottlosen so gut? Das Gute nimmt man selbstverständlich, man denkt, man hätte ein Anrecht darauf. Dass das aber auch ein Geschenk ist, nimmt man zu wenig wahr — und dann kommen die schweren Zeiten. Es gibt keinen Sinn im Tod, aber ein Getragenwerden.“
Rituale und Begleitung
Rituale sind dabei wie kleine Leuchttürme in stürmischen Zeiten. Für Pogorzelski sind es Segen, Kreuzzeichen, Dankbarkeit und Vergebung, die Halt geben. „Ich lade die Angehörigen ein, laut auszusprechen, wofür sie dankbar sind. Wenn ich alleine mit dem Verstorbenen bin, dann segne ich ihn, zeichne ein Kreuz und befehle ihn Gott an — wenn ich weiß, dass er daran geglaubt hat.“
Ob auf dem Land oder in der Stadt — als Pfarrer sieht er die Sterbesituationen gleichermaßen besonders. „Der Tod ist so allgemein und so besonders, dass ich keine großen Unterschiede sehe“, erklärt er. Doch auf dem Land fallen ihm Details auf: Kleinere Bestattungen sind seltener, die Menschen oft stärker in Gemeinschaften eingebunden. Es gibt aber auch jene, ohne Angehörige, die still ihre letzte Reise antreten. „Da sind dann nur Profis dabei — der Bestatter, das Frieshofsamt und ich“, sagt er.
Gespräche mit den Sterbenden und Abläufe nach dem Tod
Die Begegnungen mit Sterbenden sind so individuell wie die Menschen selbst: „Ich biete Dinge im Gespräch an, aber der Inhalt wird immer von der jeweiligen Person bestimmt“, sagt Pogorzelski. Jede Unterhaltung sei ein vorsichtiges Austarieren zwischen Nähe und Zurückhaltung, zwischen Zuhören und Schweigen. Dabei steht er bei jedem dieser Gespräche auch unter der gesetzlichen Schweigepflicht. „Das ist ein hohes Gut“, betont er.
Wenn der Tod eingetreten ist, läuft alles nach festen Abläufen ab: Zuerst kommt ein Arzt, der den Tod feststellt und den Totenschein ausstellt, dann der Bestatter und schließlich der Pfarrer. Selten klingeln Angehörige zuerst bei ihm. „Die Schaltzentrale ist mittlerweile tatsächlich der Bestatter. Mit den Angehörigen komme ich meist erst später in Verbindung“, sagt Pogorzelski.
Ist es schwer, ständig mit Leid und Tod konfrontiert zu sein? Pogorzelski nickt, aber in seinen Augen liegt auch Wärme. „Die Arbeit ist emotional fordernd, aber sie schenkt wertvolle Begegnungen. Seit vielen Jahren mache ich abends im Gebet eine Art Seelenwaschung. Ich gebe die Dinge des Tages zurück — Verzweiflung, Not, böse Blicke — und bitte, dass eine Reinigung stattfindet. Natürlich bekomme ich Emotionen mit, aber es ist auch schön, Menschen in solch existenziellen Momenten zu begegnen. Da fallen die Fassaden.“
Für ihn gehöre es dazu, auch die Kinder nicht auszusparen. „Ich empfehle meist, dass sie zur Beerdigung mitkommen. Es ist oft nicht zu schwer für die Kinder — es ist zu schwer für die Eltern, darüber zu reden. Beim Kaffeetrinken hinterher sitzt man zusammen — das ist dann der Übergang vom Tod ins Leben.“
Immer wieder führe ihn die Arbeit auch zu Fragen über das eigene Leben und den Tod. „Ich stelle mir manchmal vor: Was, wenn ich dort im Sarg liege? Bin ich dann so im Frieden, wie ich es anderen sage? Der Tod wirkt, wie ein Brennglas: Hat das, was ich tue, Bestand angesichts des Todes?“ Auch beim Thema Patientenverfügung bleibt er vorsichtig: „Ich tendiere aber dazu, die Menschen, die leben, über sich selbst entscheiden zu lassen.“
Sterbehilfe und gesellschaftlicher Wandel
Pogorzelski begegnet dem Thema Sterbehilfe verständnisvoll, aber kritisch. „Ich kann Menschen verstehen, die aus Verzweiflung Sterbehilfe wünschen, stehe dem Ganzen aber eher skeptisch gegenüber“, sagt er. „Heute gibt es so tolle Möglichkeiten der Schmerztherapie bis fast zum Tod. Mir ist die Vorstellung angenehmer, das Leben Gott anzuvertrauen, als es mir zu nehmen. Wenn man allerdings ALS-Patienten sieht, dann ist das schon heftig“, fügt er hinzu.
Die Gemeinde verändert sich — Jahr für Jahr verlässt sie eine Zahl von etwa 100 Menschen durch Austritte, Wegzug oder Tod. „Die Mitglieder nehmen zwar ab, aber ich bin für immer mehr zuständig“, sagt er. „Früher war ich für 2750 Menschen verantwortlich, jetzt für 3000, bald für 4000. weil es immer weniger Menschen gibt, die sich für den Pfarrberuf entscheiden. Ich glaube, der Wunsch nach Sterbehilfe wird größer werden – durch Kostendruck, familiären Bruch und das Gefühl, zur Last zu fallen.“
Angehörige seien oft überfordert, wenn sie Sterbende pflegen müssen. Pogorzelski empfiehlt Offenheit und Ehrlichkeit: „Liebe Mama, ich kann dich nur so pflegen, nicht wie du es willst, sondern wie ich es kann. Versprich nie etwas, das du nicht halten kannst – und wenn doch, gestehe es ein.“ Die Realität der Pflege sei komplex: Heime seien häufig überfüllt, die ambulante Versorgung schwieriger, weil Familien weit auseinander wohnen. „Mehrgenerationenmodelle gibt es noch, besonders auf dem Land, aber sie sind seltener geworden“, erklärt er. Aus diesem Grund seien Einrichtungen wie das Arche Care Haus für ihn so wichtig: „Das ist absolut unterstützenswert — auch für Familien.“
Bei Pfarrer Martin Pogorzelski wird der Tod nicht einfach übergangen. Er wird begleitet, verstanden, eingeordnet — getragen von Gesprächen, Gebeten, von Schweigen und Segen. Sterben bedeutet für ihn nicht nur Ende, sondern Übergang: Die Trennung von Körper und Seele, die Gewissheit, dass das Leben weiterbesteht. Er ist überzeugt, wer sich in Gottes Hände begibt, darf loslassen, darf ruhen, ohne dass das Sterben alles auslöscht. Und manchmal ist es genau diese Hoffnung, die den Menschen Halt gibt — wie ein inneres Licht, das nicht erlischt, selbst wenn die Trauer und die Endlichkeit des Lebens um sie herum spürbar sind.









