In der Stadthalle hätte man eine Stecknadel fallen hören können, als Lorenz Hemicker (46) die erste Passage aus seinem Buch „Mein Großvater, der Täter“ liest. Die Gruben für die Leichen hatte Ernst Hemicker, Tiefbauingenieur und SS-Offizier, konstruiert. Er hat auch die Exekutionen beaufsichtigt. „Mord im Akkord“, nennt es der Enkel in der Stadthalle. 1000 Menschen in 30 Minuten. Die Patronen waren genau abgezählt – falls ein Nachschuss nötig sein würde, waren es ein paar mehr als Menschen.
Lorenz Hemicker war fünf Jahre alt, als er von den Verbrechen erfuhr, hatte eine vage Ahnung. Als er später mit seinem Vater nach Lettland reisen und mehr erfahren will, stirbt der Vater unerwartet vorher. – Der Auslöser für das Buch, der Anfang einer Spurensuche. Einer Suche, wie ein Mensch aus der Familie zum Täter werden konnte. Aber auch ein Zeugnis, wie eine solche Tat, über die man natürlich nur tuschelte oder sie in der Familie, im Umfeld ganz totschwieg, die Angehörigen belastet, über Generationen hinweg. „Opa hab ich ihn nie genannt“, sagt Hemicker auf Nachfrage von Matthias Bongard, der einfühlsam moderierte. Für Lorenz Hemicker war der Opa einfach nur „Ernst“. Auch sein Vater habe nur „vom alten Ernst“ gesprochen, oft sarkastisch. Ein Schutz. Distanz zum eigenen Vater wurde da deutlich.
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Foto: Rüdiger Kahlke
„Schatten der Vergangenheit wirken nach“
Zu einer Anhörung vor dem Landgericht Hamburg 1969 fahren Lorenz Eltern mit einem Anwalt allein. Ernst weilt derweil zur Kur. „Ernst blockte alles ab“, erinnert sich Lorenz Hemicker. Die Voruntersuchungen werden eingestellt. Verurteilt wird Ernst nie. Lorenz Hemicker will keine Schuld zuweisen, will nicht anklagen. Aber: Er will deutlich machen, wie jedermann zum Täter werden kann und wie die „Schatten der Vergangenheit in der Familie nachwirken.“
Opfer im Blick, zu haben sei gut, meint Hemicker, Aber es werde zu wenig über die Täter gesprochen. Auch in den Kommunen im oberen Volmetal werde dieser Teil der Geschichte ausgeblendet. Viele hätten Angst davor, dass Täter genannt würden. Dabei sei das „obere Volmetal voll von Nazis“ gewesen. Matthias Bongard liefert einen Beleg dazu: Eine Geburtsurkunde aus dem Jahre 1956 für das sechste Kind einer Familie. Darüber ein Zitat von Adolf Hitler.
„Wir müssen aufpassen“
Hemicker warnt davor, die Vergangenheit totzuschweigen. „Die Gefahr ist die schweigende Mehrheit“, meint er. Aufklärung, Auseinandersetzung müsse „aus der Bevölkerung selbst kommen.“ Man müsse sich klar machen, „dass Nazis aus unserer Mitte kommen. Wir müssen aufpassen.“
Sein Buch stößt zur Reflexion an. Und es lässt hoffen, dass die Demokratie gefestigter ist. Nach heutigen Maßstäben wäre Ernst nicht freigekommen, ist Hemicker sicher. „Heute wäre er schuldig.“ Sein Vortrag vor mehr als 250 Besuchern in der Stadthalle, organisiert vom KuK-Verein, war eine mahnende Geschichtsstunde. Möglich gemacht haben sie die guten Kontakte von Buchhändler Wolfgang Schmitz zum Rowohlt-Verlag. Der stimmt einer Vor-Premiere in Meinerzhagen zu. Offiziell wird das Buch erst kommenden Montag in Berlin präsentiert.