Die Quote männlicher Erzieher in Kindergärten steigt in den letzten Jahrzehnten zwar an, dennoch sind sie nach wie vor deutlich in der Unterzahl. Wenn dann die Kombination "männlich, tätowiert, gepierct und mit 37 Jahren in der Ausbildung" auf einen katholischen Kindergarten trifft, wird deutlich, dass die Gesellschaft zum Wandel bereit ist.
Er wirkt ein bisschen wie ein Waldarbeiter: Groß wie ein Bär, ein buschiger Bart, dazu tätowiert und gepierct. Auf den ersten Blick ist Sebastian Rittinghaus wahrlich nicht der Prototyp des Erziehers. Aber erste Blicke täuschen oft. Denn schon beim Betreten der Kindergartenräume offenbart sich, dass die Kleinen keine Berührungsängste haben. Gleich vier Kinder umzingeln ihn und wollen ihn auch nicht zum Interview-Termin ziehen lassen.
Der gelernte Industriemechaniker macht aktuell eine Ausbildung zum Erzieher im Familienzentrum St. Josef und betreut dort 86 Kinder. „2005 habe ich meine technische Ausbildung begonnen und im Anschluss 20 Jahre als Industriemechaniker, Staplerfahrer und Maschinenbediener gearbeitet“, erzählt Rittinghaus über seinen bisherigen beruflichen Werdegang im Gespräch mit LokalDirekt - und er strahlt dabei eine große Ruhe aus, die sich auf alle im Raum überträgt.
Der Job ist weg – was nun?
Im November 2023 erfuhr Sebastian Rittinghaus, dass die Produktionsstätte seines bisherigen Arbeitgebers geschlossen werden sollte. „Da war für mich klar, dass ich mich beruflich anders orientieren muss. Ehrlich gesagt habe ich eigentlich aber schon ein Jahr früher mit dem Gedanken gespielt, mich für einen komplett anderen Beruf zu entscheiden. Es war für mich zum Schluss einfach nicht mehr erfüllend. Immer wieder die gleichen Handgriffe, und dann auch noch im Schichtbetrieb“, berichtet der 37-Jährige weiter über seinen Antrieb zum Berufswechsel.
Seine Kollegen hätten ihm schon immer gesagt, er müsse unbedingt etwas im sozialen Bereich machen, erzählt er. Diese Einschätzung habe sich bestätigt, als er nach Schließung seiner bisherigen Arbeitsstätte in ein Auffangunternehmen wechselte. Über dieses wurden für ihn erste Praktika in der Heilerziehungspflege und in einer Kita in Halver möglich. „Das Praktikum wurde mehrfach verlängert, was auch gut war, denn um die Ausbildung beginnen zu können, musste ich eine größere Anzahl praktischer Stunden vorweisen“, erzählt Rittinghaus von einer der Schwierigkeiten, die Ausbildung beginnen zu dürfen.
Dann kam der große Glücksfall, dass im Familienzentrum St. Josef ein Ausbildungsplatz frei wurde. „Eine Bewerberin hatte kurzfristig abgesagt“, erzählt Nicole Halfmann, die Leiterin des Familienzentrums. „Wir hatten schon gedacht, dass wir so kurzfristig niemanden mehr finden, aber zum Glück sind wir mit der Kita in Halver gut vernetzt.“ Von dort sei ihr Sebastian Rittinghaus sehr ans Herz gelegt worden.
Nach einem Hospitationstag in Lüdenscheid und einem anschließenden Telefonat zwischen den Beteiligten fiel die Entscheidung: Gerade einmal sechs Wochen vor Ausbildungsbeginn stand fest, dass der 37-Jährige seine neue Stelle antreten durfte. Für die Kinder sei die Entscheidung gar keine Frage gewesen: „Es hat ein oder zwei Stunden gedauert, in denen ich mich zurückgehalten habe, weil mich ihnen auf keinen Fall aufdrängen wollte. Aber dann war das Eis gebrochen und die Kinder wollten alle bei mir sein“, sagt Rittinghaus.
Startschwierigkeiten überwinden
„Zum Ausbildungsbeginn waren eher organisatorische Hürden zu überwinden“, erinnert er sich. „Ich musste zum Beispiel die Anmeldung zur Berufsschule selbst machen. Von den technischen Berufen kannte ich das so, dass das die Aufgabe des Arbeitgebers ist.“
Nicole Halfmann freut sich darüber, Sebastian Rittinghaus als neuen Auszubildenden nun im Team zu haben. „Die Optik ist für uns dabei kein Problem“, versichert sie. „Wir leben in unserer Kita die Vielfältigkeit - und Bart und Tattoos gehören doch inzwischen zur Gesellschaft dazu.“
Rittinghaus selbst war sich anfangs nicht sicher, wie er auf Kinder wirkt, die ihn nicht kennen. „Aber es ist schön, ihnen vorleben zu können, dass Vorurteile überwunden werden können.“
„Natürlich gibt es auch das eine oder andere Elternteil, das auf den Anblick von Herrn Rittinghaus spontan befremdlich reagiert“, bestätigt Nicole Halfmann auf Nachfrage und ergänzt, dass sich aber im persönlichen Gespräch viele Bedenken schnell aus dem Weg räumen lassen.
„Für uns selbst war es am Anfang schon merkwürdig, tagsüber plötzlich eine männliche Stimme auf den Fluren und aus Nachbarräumen zu hören. Da war immer erst der Gedanke: Welcher Vater holt denn da sein Kind ab? An den neuen männlichen Kollegen haben wir erstmal nicht gedacht“, schmunzelt Halfmann.
Immer mehr Männer als Erzieher – Zweitausbildung ist gern gesehen
Dabei steigt die Anzahl der männlichen Erzieher kontinuierlich an. „In meiner Berufsschulklasse sind von 21 Auszubildenden immerhin fünf Männer. Und ich bin dabei auch nicht der Älteste“, erzählt Rittinghaus. „Das Alter der kommenden Erzieher in der Berufsschule schwankt zwischen 18 und 50 Jahren.“
Ein Trend, den auch Nicole Halfmann bestätigt. „Es gibt immer mehr Männer und Frauen, die den Erzieherberuf in der Zweitausbildung ausüben. Wir haben damit auch sehr gute Erfahrungen gemacht. Diese Menschen stehen mit beiden Beinen im Leben, sie wissen, was sie wollen, oder zusammenfassend gesagt: Sie sind erwachsener.“ Sie sei aber auch überzeugt, dass die Tatsache, dass die praxisintegrierte Ausbildung für viele interessanter geworden sei, weil sie inzwischen auch bezahlt wird.
Sebastian Rittinghaus will anderen Berufstätigen, die ihren Beruf wechseln müssen, weil der Betrieb schließt oder sie in ihrem Fachgebiet einfach nicht mehr glücklich sind, Mut machen, den Schritt zum Wechsel zu wagen. „Wenn meine damalige Firma nicht geschlossen hätte, hätte ich nach dem Motto: „Augen zu und durch“, weitergemacht bis zur Rente. Mit diesem Pflichtbewusstsein bin ich aufgewachsen, aber Fakt ist, ich hätte mich jeden Tag zur Arbeit gequält. Trotzdem habe ich am letzten Tag im Betrieb geweint, obwohl die Schließung dort für mich ein Glücksfall war. Denn jetzt habe ich eine neue berufliche Chance.“
Tipp: Veränderung wagen
Während der Ausbildung ist er zwei Tage in der Berufsschule und drei Tage in der Kita. „Die Schule ist schon anstrengend“, resümiert er. „Jetzt sind es keine Fächer, die man über Formeln oder Berechnungen angehen kann. Ein Kind ist nun mal keine Maschine. Hier ist eins und eins nicht unbedingt zwei. Aber es ist auf jeden Fall sehr spannend, etwas völlig anderes zu lernen. Das Beste ist aber, dass ich jetzt wieder motiviert zur Arbeit gehe. Die Kinder geben einem so viel ehrliche Meinung wieder.“
Und wie sehr sie ihren neuen männlichen Erzieher mögen, zeigt sich für Rittinghaus jedes Mal, wenn er in die Pause gehen möchte. Denn diese wollen ihm „seine“ 86 Kinder nicht zugestehen. „Am liebsten würden sie mir die Pause komplett verbieten“, lacht er, und sagt dann ernst: „Es ist schon ein tolles Gefühl, wenn die Kinder selbst für ein paar Minuten nicht auf mich verzichten wollen.“ Auch Nicole Halfmann sieht das Vertrauensverhältnis, das zwischen Rittinghaus und den Kindern herrscht. „Dadurch, dass er ein Mann ist, hängen die Kinder wie Magneten an ihm. Kinder sind generell sehr offen. Da braucht es nicht viel, um eine Bindung herzustellen.“
Und dabei ist der „Riese“ - anders als man denken könnte - noch nicht einmal unbedingt der Spielkamerad für die „Draußen-Spiele“. Schaukeln, Klettern, Sandkasten und Ballspiel – das sind nicht seine Lieblingsbeschäftigungen. „Ich bastle sehr gerne mit den Kindern. Dabei kann ich sie motivieren, animieren und fördern. Ich sehe mich da quasi als Entwicklungsbegleiter und bin für alle ihre Fragen da", erzählt Sebastian Rittinghaus. Und prompt stellt man sich das eher ungewöhnliche Bild vor, wie die großen Pranken des 37-Jährigen eine kleine Kinder-Bastelschere halten.
Unterm Strich zieht Sebastian Rittinghaus ein mehr als positives Fazit aus seinem Berufswechsel. Mit einem glücklichen Lächeln gibt er gerne einen Rat weiter an alle, die mit ihrer Berufswahl unzufrieden sind: „Zieh‘ dein Ding durch, probiere dich aus. Es gibt immer eine Möglichkeit für eine Veränderung. Informiere dich.“ Es sei zwar ein Wagnis gewesen: „Aber es ist allemal besser, ein Abenteuer zu wagen, als jeden Tag mit Bauchweh zur Arbeit zu gehen.“






