Es ist still im Gerichtssaal, als der 19-jährige, russische Staatsbürger von zwei Wachtmeistern in den Raum geführt wurde. Seit dem Tattag sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf in Untersuchungshaft, zum Tatzeitpunkt stand der mutmaßliche Täter unter einer Bewährungsstrafe. Er wirkt gefasst, zeigt während der gesamten Verhandlung keine Emotionen. Aussagen macht er nur mithilfe eines Übersetzers. Seiner Aussage nach ist die Situation gänzlich anders abgelaufen, als es ihm die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vorwirft.
Ausführlich berichtet er, wie er am Tattag mit einer Freundin in der Lüdenscheider Innenstadt unterwegs gewesen ist. Als er gegen 22 Uhr auf die Uhr blickte, erschrak er, sollte er doch spätestens um 21 Uhr in der elterlichen Wohnung in Meinerzhagen sein. Daraufhin habe er sich von der Freundin getrennt und sich von einem Bekannten zu einer Bushaltestelle in Brügge bringen lassen. Da er den dortigen Bus verpasst habe, bot ihm der Bekannte an, ihn bis nach Oberbrügge mitzunehmen. Um sich warm zu halten bewegte er sich ein wenig in Richtung Volmestraße. Dort wartete er auf seinen Bus, bis ihm auf einmal ein älterer Mann auffiel, der unter einem vorbeifahrenden Auto lag. Sofort sei er laut eigener Aussage dorthin geeilt, habe den Puls gefühlt und anschließend die Polizei und den Rettungsdienst gerufen. Erst danach seien auch die Insassen des PKW ausgestiegen und hätten ihn beschuldigt, die Person vor das fahrende Auto geschubst zu haben. Gemeinsam mit anderen Zeugen hielten sie ihn bis zum Eintreffen der Polizei fest und gaben gegenüber der Polizei an, dass er den Geschädigten unter den fahrenden PKW geschubst habe.
Hier ergaben sich für die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen jedoch gleich mehrere Abweichungen von den Protokollen der Polizei, Zeugenaussagen und den Aussagen, die der Tatverdächtige gegenüber einem Gutachter gemacht hat. Diese blieben im Laufe des ersten Verhandlungstages jedoch nicht die einzigen Unklarheiten, in die sich der Beschuldigte verstrickte.
Im Rahmen der Beweisaufnahme wird auch das Mobiltelefon des jungen Mannes durchsucht. Neben einem Foto, auf dem er mit einer Waffe posiert, was der Beschuldigte als Jugendsünde mit einer Spielzeugpistole abtut, findet sich dort ein Video, was eine Überwachungskamera aus einem Bus aufgezeichnet hat. In dem Video ist zu sehen, wie eine Person vor einen anfahrenden Bus geschubst wird – deutliche Parallelen zu dem Vorwürfen gegen Maksim V. sind vorhanden. Dieses Video, so äußert der Angeklagte, sei ihm nicht bekannt. Seine Vermutung ist, dass das Video im Rahmen der Auswertung des Handys auf ebendieses drauf geschmuggelt wurde, um ihm die Tat in die Schuhe zu schieben.
Ein ähnliches Bild zeigt sich für Hartmann-Garschagen auch, nachdem sie sich mit dem jungen Mann über sein bisheriges Leben unterhalten hat. „Wenn ich mir das so anhöre, klingt das so, als wäre die Schuld immer bei den anderen“, stellt sie fest. Der junge Mann berichtet von seiner Zeit auf verschiedenen Schulen in Meinerzhagen und Attendorn, auf denen er von Mitschülern und Lehrpersonal gemobbt worden sei sowie von mehreren Hilfstätigkeiten in unterschiedlichen Firmen, mit denen er sich, nachdem er die Schule abgebrochen hatte, über Wasser zu halten versuchte. Auch hier wurden ihm mehrfach Diebstähle oder andere „Zwischenfälle“ vorgeworfen, die seiner Aussage jedoch nur dazu dienten, ihm etwas in die Schuhe zu schieben.
Etwa zwei Stunden nach Beginn des Prozesses werden durch das Gericht die ersten Zeugen gehört. Unter ihnen sind drei Polizeibeamte, die am Tattag in Oberbrügge im Einsatz waren sowie der Betreuer des mittlerweile – unabhängig vom aktuellen Fall – verstorbenen Geschädigten.
Die drei Polizisten, die in teilweise unterschiedlichen Streifenwagen zeitversetzt an der Einsatzstelle ankamen, schildern alle drei ein ähnliches Bild: Sie waren aufgrund von gemeldeten Streitigkeiten an die Einsatzstelle an der Volmestraße in Oberbrügge alarmiert, dort angekommen war die Stimmung aufgeheizt und anfangs alles sehr chaotisch. Den Polizisten der Halveraner Wache sind sowohl das Opfer als auch der mutmaßliche Täter bekannt, zwischen ihnen sei es im Vorfeld bereits mehrfach zu Beleidigungen und auch Körperverletzungen gekommen. Trotz der aufgeheizten Stimmung soll der Tatverdächtige laut übereinstimmender Aussage mehrerer Streifenbeamten – genau wie im Gerichtssaal selbst – sehr gefasst gewirkt und keinerlei Emotionen gezeigt haben. Von Problemen bei der Festnahme berichtet keiner der eingesetzten Beamten. Von diesen anhaltenden Streitigkeiten zwischen Opfer und Angeklagten berichtet auch der Betreuer des Verletzten.
Einig waren sich die Beamten in den Aussagen, dass mehrere anwesende Zeugen vor Ort übereinstimmend berichteten, dass der Geschädigte von Maksim V. vor den PKW geschubst worden sei. Laut Polizeibericht sei der Schubser wohl durchdacht gewesen, der Beschuldigte habe sich dem Opfer von hinten genähert und ihn genau dann auf die Bundesstraße gestoßen, als ein PKW kam. Auch in diesem Punkt zeichnen mehrere Zeugen unabhängig voneinander dasselbe Bild.
Zum Abschluss des letzten Verhandlungstages verlies Hartmann-Garschagen die Vernehmungsprotokolle des Opfers. Der 48-jährige Deutsch-Pole ist Anfang März 2025 verstorben und kann daher im laufenden Verfahren keine weiteren Auskünfte mehr geben, wurde jedoch am Tattag an der Unfallstelle und wenige Tage später mehrfach im Krankenhaus zu dem Fall befragt. Auch er berichtete von mehrfachen Streitigkeiten mit dem Angeklagten im Vorfeld.
Am Tatabend war er mit dem Bus auf dem Rückweg aus dem Klinikum Lüdenscheid zu seiner Wohnung in Oberbrügge. Bereits an der Bushaltestelle habe ihn Maksim V. angesprochen, dies habe er jedoch ignoriert und sei weiter gegangen. An der Volmestraße habe ihn V. dann erneut von hinten angesprochen. Noch ehe er sich vollständig umdrehen konnte wurde er vom Verdächtigen von hinten gepackt und vor ein herannahendes Auto auf der Bundesstraße gestoßen. Das Auto konnte ihm noch ausweichen, hat eine Frontalkollision vermeiden können. So blieb es bei mehreren gebrochenen Knochen, unter anderem am Sprunggelenk.
Mit der Verlesung der Vernehmungsprotokolle endet der erste Verhandlungstag vor der 2. großen Jugendkammer des Landgerichtes Hagen nach etwa drei Stunden. Der Prozess wird am 25. April fortgesetzt. Im Laufe der letzten Woche sind am Hagener Gericht weitere Strafsachen gegen den 19-Jährigen eingegangen. Diese werden jedoch, so vermutete Hartmann-Garschagen, bei einer Verurteilung wegen versuchten Mordes, der Körperverletzung und dem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr nicht weiter ins Gewicht fallen. Sie einigt sich mit der Staatsanwaltschaft darauf, diese Fälle zu vertagen, bis die aktuelle Verhandlung abgeschlossen ist und diese dann gegebenenfalls einzustellen.